Hallo Bogi,
Du schreibst:
Ich bin 1958 von Polen nach Deutschland übersiedelt. Obwohl wir hier 5 Jahre in einer Baracke ohne Strom gelebt haben,habe ich meine Kindheit in schöner Erinnerung.
Wir hatten Zukunftsoptimismus,es ging in großen Schritten aufwärts. Wir haben gebaut und uns ging es zunehmend besser. Jeder hat noch "malocht" 40-45 Stunden
Woche ohne freien Samstag...
Da gab es kein Harz 4!
Ja. Es gab aber Vollbeschäftigung.
Es gab im Notfall Arbeitslosengeld in Höhe von 80% bis 90% und Sozialhilfe, die ein Leben in Würde ermöglichte, wenn jemand sie brauchte.
Nein - es gab kein HartzIV. sondern einen fairen Umgang, echte Hilfe für Bedürftige.
Es gab weitaus bessere Krankenkassenleistungen als heute und Schüler-Bafög für Kinder aus finanzschwachen Familien.
Es gab ein anderes, faires Klima.
Und es gab, wie du selbst schreibst, Zukunftsoptimismus, ein völlig anderes Lebensgefühl als heute, das Gefühl, dass es ganz allgemein aufwärts ging. nicht nur für 10 bis 20 Prozent Privilegierte.
Das Wissen, dass es allgemein aufwärts geht, das genau fehlt vielen Menschen heute. Nicht, weil die meisten faul oder träge wären, sondern weil es strukturell in diesem Land für das untere (aber inzwischen auch mittlere) Drittel immer weiter abwärts geht, weil Arbeit immer schlechter bezahlt wird, weil viele - sehr berechtigt - Angst haben müssen vor Arbeitsplatzverlust und Altersarmut.
Grosse Teile deiner Generation, - ich schätze dich auf Ende 60, um die 70, - grosse Teile deiner Generation übersehen das völlig.
Sie übersehen die völlig andere Lage heute. Sie übersehen, dass schon der Berufsstart bei vielen schiefläuft, nicht weil sie zu wenig gelernt hätten, sondern weil auf eine Stelle drei, vier, fünf Bewerber kommen. Und wer eine Stelle hat, ist oft nur befristet und/oder prekär beschäftigt, mit einem äusserst schmalen Gehalt.
Die prekäre Beschäftigung, das Von-der-Hand-in-den Mund-leben-Müssen, DAS macht eine Familien- oder Lebensplanung oft nicht möglich. Da wird Millionen junger Menschen in der EU jede Perspektive und das Selbstwertgefühl geraubt.
30, 40, 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit - in Italien, Spanien, Griechenland.
Meinst du ernsthaft, die grosse Mehrheit dieser Menschen hat das verdient oder selbst verschuldet?
30, 40, 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit - in Italien, Spanien, Griechenland - weisst du, was das heisst?
Ich denke nein. In beengten Verhältnissen zu leben so wie du 1958-1963, ist erträglich und relativ leicht zu meisten, wenn es im Lande und in der Wirtschaft aufwärts geht, wenn man fühlt, dass man GEBRAUCHT wird.
Weisst du, warum es in Deutschland zu einem Wirtschaftswunder kam?
Du wirst sagen durch Fleiss. Ja, auch, ABER Das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Seite ist die Anschubfinanzierung - der Marshall-Plan.
Und das fehlt heute den südlichen Ländern Europas - und da hat die EU erbärmlich versagt.
Ein Wort noch zu den Werten.
Ich habe einen guten Freund, der ist in prekären Verhältnissen gross geworden. Seine Mutter und er haben sogar in den Sechziger Jahren teilweise noch gehungert. Ich sage das, damit du nicht meinst, nur deine Generation, wüsste, was Darben und Arbeiten heisst.
Seine Mutter war alleinerziehend. Er ging aufs Gymnasium, hat es zu etwas gebracht. Einfach war es nicht. Seine Kindheit und Jugend möchte er dennoch nicht missen, sagt er. Denn er wisse, was es heisst, arm zu sein, sich durchkämpfen zu müssen. Eine schwere Zeit, ABER er hatte einen grossen Vorteil: Arme und Alleinerziehende waren in den Sechziger und Siebziger Jahren GEACHTET, nicht stigmatisiert. Anders als heute,
Das Frozzeln und Mobben, die Häme und der Spott gegen Ärmere und Alleinerziehende waren bis in die Achtzigerjahre die grosse Ausnahme, ja sie waren selbst tabu.
Heute ist das anders. Heute wird die Verächtlichmachung der ärmeren Schichten von Bild-zeitung bis SAT1, RTL und Westerwelle geradezu zelebriert.
Ja. es gibt einen Werteverfall in vielen Bereichen. Der Dünkel der Saturierten gehört dazu.
Du hast Glück gehabt, warst zu einer Zeit berufstätig, als Menschen gebraucht wurden und fair entlohnt wurden.
In einer Zeit ohne Lohn- und Steuerdumping.
Sei froh und dankbar. Das war eine Form der Gnade.
Du hast Glück gehabt.
Gnade.
Kein Grund sich zu rühmen.
Ich habe auf meine Art Glück gehabt
Auch kein Grund sich zu rühmen.
Aber für uns beide ein guter Grund sich für echte Lebenschancen der vielen Menschen einzusetzen, die EUROPAWEIT jetzt am Rande stehen.