Über die Jahre verfestigt sich das und führt zu Minderwertigkeitsgefühlen: die Angst, etwas falsches zu sagen und ablehnende Reaktionen zu ernten. Nichts sagen ist immerhin besser als etwas sagen, wodurch man sich verletzt fühlt. Ich sehe hier drei Gründe für solche Entwicklungen:
So wie unter Menschen, die nicht mit Autismus leben, ist die soziale Reaktion und Empathie für soziales Interagieren weniger oder höher ausgeprägt. So ist bei J, den ich oben schon öfter erwähnt habe, in seinen Reaktionen manchmal gänzlich "gefühllos" gegenüber dem was andere machen. Dass er jetzt gerade in ein Meeting reinplatzt, nur weil er bei seiner Arbeit nicht mehr weiterkommt oder bei seinem Bildschirm ein ungewohntes Fenster aufgegangen ist, das er nicht selbst wegdrückt, sondern lieber fragen geht...das ist ihm völlig egal, dass er hier jetzt eine Besprechung stört. Er hat keinerlei Empfindung dafür, dass er die soziale Interaktion anderer stören könnte. Für ihn zählt sein Problem und die Tatsache, dass er nicht weiterkommt, alles andere ist nebensächlich. Zumindest kommt es so rüber, das muss ich auch dazusagen.
Es fehlt auch an Zurückhaltung. Wenn er am Dienstag immer etwas vom Inder zum Essen bestellen will, dann kommt er in mein Büro ganz egal ob die Türe zu ist oder offen, ob an der Türe steht "Bitte nicht stören", oder ob ich eine Besprechung habe. Er will jetzt was beim Inder bestellen. Und wenn ich nicht gleich mit ihm bestelle, dann muss ich auf die Minute genau angeben wann ich mich bei ihm melde. Tue ich das dann nicht, dann steht er pünktlich wieder in meinem Büro. Wenn man von seiner Beeinträchtigung nicht weiß, dann empfindet man das als extrem unhöflich. Er selbst empfindet aber scheinbar gar nichts dabei. Weil er das bei anderen im Büro, vor allem beim Chef, auch schon gemacht hat und dafür dann auch mal eine schärfere Zurechtweisung erhalten hat, da reagiert er schon auch darauf, er ändert sein Verhalten aber nicht wirklich. Vielleicht fehlt ihm auch die Folgenabschätzung, die jeder von uns hat, wenn etwas zu tun ist, wo man unsicher ist. Man überlegt: "Was könnte mein Verhalten bewirken?" - J macht sowas nicht, oder er misst dem Überlegten keinen Wert bei.
J beschäftigt sich aber schon auch mit den Problemen anderer, warum? Beispiel: Beim Essen vor ein paar Wochen hatte ich das Thema Impfen mit einer Kollegin, die nicht geimpft ist. Weil das halt jetzt gerade immer wieder Thema ist. J war dabei und hat beim Essen zugehört. Vor ein paar Tagen hat er dann wieder mit mir beim Inder bestellt und nachdem ich die Bestellung aufgegeben hatte, fragt er mich: "Warum lässt sich ... nicht impfen?" - da hab ich ihm dann gesagt, dass er sie selbst fragen soll. Er interessiert sich also für andere. Das Motiv muss ich erst erfragen, ob es Empathie für den anderen ist, oder ein Selbstschutz-Gedanke?
Damit sind die Authisten auf ihre Art sehr empathische Menschen.
Ja und nein. Manche sind überempathisch, bei manchen fehlt zumindest anscheinend die Empathie. Manchen steht ihr überempathisches Empfinden aber vielleicht auch einfach nur im Weg und sie können diese Gefühle nicht richtig ordnen. Man müsste ja genauer wissen was da im Kopf eines Autisten vorgeht, wenn er mit einer Situation konfrontiert ist, die Empathie erfordert oder eben die Empathie anregt.