Nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt mit fünf Toten überbieten sich Beobachter mit angeblich stichhaltigen Erklärungen zu den Hintergründen des Anschlags und der Gesinnung des Täters. Dabei ist sehr vieles weiter unklar.
Ein islamistischer Terroranschlag, schon wieder? Das war die erste Lesart am Freitagabend, kurz nachdem bekannt geworden war, dass es ein Mann aus Saudi-Arabien ist, der seinen Pkw über den Magdeburger Weihnachtsmarkt gejagt und Menschen in den Tod gerissen hatte.
Als klar wurde, dass Taleb al-Abdulmohsen hinter der Tat steht, bekam diese erste, gerade in sozialen Medien wie X offensiv vertretene Einschätzung Risse. In den vergangenen Jahren war der 50-Jährige nämlich als Islam-Gegner, Kritiker des saudi-arabischen Regimes und der migrationsfreundlichen deutschen Politik in Erscheinung getreten. Zehntausende Menschen lasen seine Beiträge in den sozialen Medien, er sprach mit Journalisten großer Medien.
Die immer noch unklare Motivlage des Täters
Weil er auch Pro-AfD-Posts absetzte und Beiträge von Alice Weidel teilte, war auch eine Nähe zum rechten politischen Spektrum erkennbar. So wie die Einen sofort reflexartig islamistischen Terror anprangerten, verbreiten andere deswegen nun offensiv die Erzählung vom rechtsextremen Terror und behaupten, wie Ex-CDU-Politiker Ruprecht Polenz, der Anschlag von Magdeburg gehöre „in eine Reihe mit den rechtsextremistischen Anschlägen von Breivik (77 Tote) und Christchurch (51 Tote)“.
Oder war alles nur eine False-Flag-Operation, steckt doch eine islamistische Gesinnung hinter allem? Hat al-Abdulmohsen, in Wahrheit kein Atheist, sondern arabischer Schiit, die Praxis der Taqqiye verfolgt, einer islamischen Doktrin, die Täuschungen erlaubt, um islamische Ziele zu fördern? Waren die öffentlichen Äußerungen al-Abdulmohsens nur Fassade? Diese These verbreiten Islam-Kritiker wie Ali Utlu und bekommen dafür viel Zuspruch ….
Historisch gesehen war Taqiyya ein Mittel, um das eigene Leben zu schützen. Wie die ersten Christen wurden auch die ersten Muslime als Anhänger einer neuen Religion verfolgt. Aus Angst um Leben und Freiheit mussten sie ihre Religion verleugnen. Der Islam versteht Taqiyya als legitime Schutzmaßnahme, solange eine unmittelbare Gefahr besteht. Dies war bei dem Magdeburg-Attentäter nicht der Fall, denn ohne Bedrohung fehlt die theologische Legitimation für Taqiyya.
Zudem soll al-Abdulmohsen Ex-Muslimen zur Flucht aus arabischen Ländern in den Westen geholfen haben – ein Wirken, dass durch Taqiyya nicht gedeckt ist. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze war bis 2018 Direktor des Instituts für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern und beschäftigt sich seit Freitagabend intensiv mit der Tat in Magdeburg.
Im Gespräch mit WELT sagte er am Sonntag: „Ich kenne ziemlich viele Muslime. Ich habe nicht einen kennengelernt, der mit dem Konzept der Taqiyya etwas anfangen könnte.“ In der islamischen Frühzeit, im 8. und 9. Jahrhundert, hätte es eine Rolle gespielt, um die Religion zu schützen: „Aber in den letzten Jahrhunderten gibt es keinerlei Bezug mehr zu diesem Konzept, nicht in politischen Schriften, nicht in der Literatur, nicht in der Argumentation etwa iranischer Gelehrter.“ ….