Norbert, ich werde mal deine Nummerierung beibehalten.
1) Nach dem, was du hier schreibst, sind es also nicht die Worte "ich bin", die irgendjemanden dazu bringen könnten, Jesus für Gott zu halten, sondern die Tatsache, dass es Jesus ist, der sie äußert, habe ich dich hier richtig verstanden? Falls ich dich richtig verstehe, würde das folgende Nachfragen produzieren:
-Woran haben denn die Juden in Joh 8,58 erkannt, dass die Worte "ich bin" im Munde Jesu eine andere Bedeutung hatten als die gleichen Worte in Joh 9,9?
-Setzt du hier nicht genau das voraus, was du eigentlich mit Joh 8,58 beweisen wolltest, nämlich dass Jesus Gott ist? Denn wie könnten Jesu Worte sonst eine besondere Bedeutung haben?
Ich weiß, dass viele Ausleger hier eine Verbindung zu 2.Mo 3,14 ziehen. Nur wie soll diese Verbindung funktionieren? Die Worte "ich bin", die wir in der deutschen Übersetzung häufig lesen, lauten im altgriechischen (der Sprache des Johannes-Evangeliums) unterschiedlich (2.Mo 3,14: "ho on" = der Seiende, Joh 8,58 "ego eimi" = Ich bin). Wenn Johannes hier eine Verbindung zu 2.Mose 3,14 hätte ziehen wollen, dann hätte er das im altgriechischen erklären müssen. Wieso finden wir keine derartige Erklärung? Wie hätte irgendeiner der LEser des Johannesevangeliums in der Antike das verstehen können?
2) Das Jesu Tod beschlossene Sache war, ist wichtiger als du hier anscheinend erkennst. Die Juden hatten keinerlei Probleme mit falschen Vorwürfen. In Joh 8,48 warfen sie ihm vor, Samaritaner zu sein, obwohl sie (Joh 7,52!) genau wussten, dass er es nicht ist. In Joh 8,48.52 warfen sie ihm zwei mal vor, von Dämonen besessen zu sein, obwohl der Vorwurf an den Haaren herbeigezogen war. Wenn wir also annehmen wollen, dass die Juden Jesus hier vorwarfen, sich zu Gott zu machen (der Bibeltext sagt das nicht ausdrücklich), dann stellt sich die weitere Frage, ob dieser Vorwurf denn in diesem Fall gerechtfertigt war oder einfach ein weiterer falscher Vorwurf war? Welchen Grund haben wir hier anzunehmen, dass die Juden, die gerade eben noch Jesus ins Gesicht gelogen hatten, von einem Anfall der Ehrlichkeit übermannt wurden? Denn wenn auch dieser Vorwurf falsch war, können wir daraus nichts wesentliches schlussfolgern.
Außerdem hatten die Juden Jesus in Johannes 8 fast ständig falsch verstanden: Vers 22: sie hielten ihn für einen Selbstmörder, Vers 25: Sie verstanden nicht, was Jesus über sich selbst sagte, Vers 27(!), Vers 33, sie verstanden nicht, von welcher Freiheit Jesus redet, Vers 41: sie verstehen nicht, von welchem Vater er redet, Vers 53: sie verstanden nicht, was Jesus für eine Stellung beanspruchte, Im Vers 57 verdrehen sie Jesu Aussage. Wieso also sollten wir annehmen, dass die Juden im Vers 58 Jesus plötzlich korrekt verstehen? Und wenn sie ihn wieder falsch verstehen, was wird dadurch bewiesen, dass sie ihn töten wollten? Doch wohl nur, dass sie Jesus hassten.
3) Ein interessantes Argument. Aber es setzt hier bereits wieder voraus, was eigentlich bewiesen werden sollte, nämlich dass Jesus Gott ist. Eine wesentlich einfachere Erklärung lautet: er hat nicht gsagt, dass er Gott ist, weil er nicht den Anspruch erhob, Gott zu sein.
Und es klingt für mich nicht logisch: Wenn für Jesus im Vers 54 Demut so wichtig so wichtig war, wieso hat er das dann im Vers 58 anders gemacht? Hätte er da nicht genauso auf seine menschliche Natur verweisen können? Und wenn es im Vers 58 irgendwelche Gründe gab, auf seine göttliche Natur zu verweisen (welche wären das?), gab es im Vers 54 nicht noch wichtigere? Du selbst hast weiter oben geschrieben, dass Jesus Gott sein muss, um uns zu retten, und Jesus sagte (in Joh 17,3), dass wir ihn erkennen müssen, um ewiges Leben zu haben. Wenn Jesus also auf die direkte Frage, wer er ist, eine Antwort gibt, die genau den Aspekt versteckt, der notwendig für unsere Rettung ist, was macht er da? Setzt er da nicht die ewige Rettung seiner Zuhörer aufs Spiel (und es waren auch Gläubige unter ihnen, Joh 8,30). Warum antwortet Jesus auf die Frage "wer bist du?" nicht wahrheitsgemäß aber auf die Frage "wie alt bist du" sagt er dann: "Ich bin übrigens Gott". Das ergibt für mich so keinen Sinn.
4) Einen Grund, warum Jesu Worte die gewalttätige Reaktion hervorriefen: Die Juden beriefen sich wiederholt auf Abraham als auf ihren Vater (Joh 8,33,39). Sie sahen sich als Samen Abrahams!. Jesus sprach ihnen genau das ab (Joh 8,37-40). Im Vers 53 forderten die Juden Jesus hinaus, er solle bitte schön mal sagen, wieso er meint, dass sein Wort mehr zählt, als das, was Abraham sagte. Jesu Worte, dass er älter waren, waren in einer patriarchalischen Gesellschaft ein Anspruch, dass er im Rang über Abraham stand.
Jesu Worte liefen also auf folgendes hinaus:
Ich stehe über Abraham
Ihr habt kein Recht euch auf Abraham zu berufen
Ihr seid Kinder des Teufels.
Jesus griff hier die Priester und Pharisäer direkt an. Er rieb ihnen unter die Nase, wer sie wirklich sind, und dass sie sich selbst belogen. Vor dem versammelten Volk hat er sie öffentlich verurteilt. Das reicht eigentlich, um den Hass der jüdischen Führer zu erklären. Wenn sie so etwas durchgehen ließen, war ihre Autorität als religiöse Führerschaft ernsthaft gefährdet (vergleiche Joh 11,47.48). Eigentlich dachten die Priester im Vers 53, dass sie Jesu in eine Zwickmühle gelockt hätten: entweder er akzeptierte die Autorität Abrahams und damit die Autorität der Priester, die sich auf ihn beriefen, oder aber er verwarf die Autorität Abrahams und stellte sich damit außerhalb des jüdischen Volkes. Wenn sie je gedacht hätten, dass Jesus einfach mal beansprucht, über Abraham zu stehen, dann hätten sie diese Frage wohl nie gestellt. Jesu Erklärung, dass er älter als Abraham ist, war da der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte.
5) In diesem Zusammenhang ist auch Joh 8,54 aus einem weiteren Grund wichtig: Jesus identifiziert hier eindeutig seinen Vater als Gott Israels (also als JHWH). Warum identifiziert er allein den Vater als Gott Israels, wenn dieser Gott doch dreieinig ist? Selbst wenn seine Demut es ihm untersagte, sich selbst als Gott zu bezeichnen, was ist mit dem heiligen Geist, hätte der nicht auch hierhin gehört? Und wenn Jesus hier ausschließlich den Vater als Gott Israels identifiziert, macht er es seinen Zuhörern nicht unmöglich, die Wahrheit über Gott zu verstehen? Wie hätte in Jude angesichts dieser Aussage überhaupt Vers 58 als einen Hinweis darauf verstehen können, dass Jesus sich als Gott bezeichnet? Welche Überlegungen hätten in dem Hirn eines Juden ablaufen müssen, damit er von der Aussage "Mein Vater ist Gott" zu dem Ergebnis kommt: "Ich (Jesus) bin Gott". Du hattest schön gezeigt, wie ien Trinitarier des 21. Jahrhunderts darauf kommt. Aber was ist mit einem Juden aus dem ersten Jahrhundert? Hätte der nicht "ich bin" genauso verstehen müssen, wie das alle in Joh 9,9 verstanden?