Zum Verhältnis zwischen Schrift und Tradition in der katholischen Kirche
Ansprache von Papst Benedikt XVI. an den römischen Klerus über das II. Vatikanische Konzil, 14. Februar 2013:
Noch konfliktgeladener war das Problem der Offenbarung. Hier ging es um die Beziehung zwischen Schrift und Tradition, und hier waren vor allem die Exegeten an größerer Freiheit interessiert; sie fühlten sich, sagen wir, den Protestanten etwas unterlegen, die die großen Entdeckungen machten, während die Katholiken sich etwas »behindert« fühlten von der Notwendigkeit, sich dem Lehramt zu unterwerfen. Hier war also auch ein ganz konkreter Kampf im Spiel: Welche Freiheit haben die Exegeten? Wie legt man die Schrift gut aus? Was bedeutet Tradition? Es war eine vielschichtige Auseinandersetzung, die ich jetzt nicht darlegen kann, aber wichtig ist, daß die Schrift natürlich das Wort Gottes ist und die Kirche unter der Schrift steht, dem Wort Gottes gehorcht, nicht über der Schrift steht. Und dennoch ist die Schrift nur deshalb die Schrift, weil es die lebendige Kirche, ihr lebendiges Subjekt gibt; ohne das lebendige Subjekt der Kirche ist die Schrift nur ein Buch, das für verschiedene Auslegungen offen ist und keine letzte Klarheit gibt.
Hier gab es, wie gesagt, eine schwierige Auseinandersetzung, und entscheidend war das Eingreifen von Papst Paul VI. Dieses Eingreifen zeigt die ganze Feinfühligkeit des Vaters, seine Verantwortung für den Fortgang des Konzils, aber auch seine große Achtung vor dem Konzil. Es war die Vorstellung aufgekommen, daß die Schrift vollständig ist, sich dort alles findet; man braucht also die Tradition nicht, und daher hat das Lehramt nichts zu sagen. Der Papst hat daraufhin dem Konzil 14 – meine ich – Formulierungen eines Satzes vorgelegt, der in den Text über die Offenbarung eingefügt werden sollte, und er gab uns, gab den Vätern die Freiheit, eine der 14 Formulierungen auszuwählen, sagte aber: Eine muß ausgewählt werden, um denText zu vervollständigen. Ich erinnere mich mehr oder weniger an die Formulierung: »non omnis certitudo de veritatibus fidei potest sumi ex Sacra Scriptura«, das heißt, die Gewißheit der Kirche über den Glauben entspringt nicht nur einem für sich allein genommenen Buch, sondern sie braucht das erleuchtete Subjekt Kirche, getragen vom Heiligen Geist. Nur so spricht dann die Schrift und hat all ihre Autorität.
Dieser Satz, den wir in der Lehrkommission ausgewählt haben – eine der 14 Formulierungen –, ist meines Erachtens entscheidend, um die Unverzichtbarkeit, die Notwendigkeit der Kirche darzulegen und so zu verstehen, was Tradition bedeutet, der lebendige Leib,in dem dieses Wort von Anfang an lebt und von dem es sein Licht empfängt, indem es entstanden ist. Bereits der Kanon selbst ist etwas Kirchliches: Daß diese Schriften die Heilige Schrift sind, kommt aus der Erleuchtung der Kirche, die diesen Schriftkanon in sich gefunden hat – gefunden, nicht geschaffen hat –, und immer nur in dieser Gemeinschaft der lebendigen Kirche kann man die Schrift auch wirklich als Wort Gottes verstehen und lesen, als Wort, das uns im Leben und im Tod leitet.