Autismus - der Geist in der Zelle

  • Was das Archivieren angeht: wenn ihm das einmal richtig gezeigt wurde, wird der Junge wahrscheinlich niemals einen Fehler dabei machen.


    Glaube ich auch. Ich erinnere mich an diese Firma, die nur Autisten beschäftigt; das sind in gewisser Weise auch Experten für Genauigkeit und Korrektheit. Natürlich darf man nicht alle Autisten über einen Kamm scheren.

    Auch wenn das allem Anschein nach kein Fehler ist, den Tricky machen wird, drängt es mich darauf hinzuweisen, dass man nicht nur mit den Eltern und den "Experten" sprechen sollte; sondern den jungen Mann auch selber einbeziehen sollte, dass er, nachdem man ihm die Grenzen und die Perspektive einer solchen Beschäftigung möglichst wertfrei klargemacht hat, selber so weit als möglich nicht fremdgesteuert, auf seine Weise äußern kann, was er möchte.

    "Prüft alles und, was gut ist,
    das behaltet. Aber was böse ist,
    darauf lasst euch nicht ein..."

    1. Thessalonicher 5, 21.22

    "Wähle das Leben, damit du lebst."
    5. Mose 30, 19

    Einmal editiert, zuletzt von Daniels (18. Januar 2015 um 15:16)

    • Offizieller Beitrag

    Ja, was ich hier noch schreiben wollte.

    Wie hat dieses Praktikum von J auf mich gewirkt? Was hat es mir über mich selbst erzählt?

    Bei diesen Fragen bin ich erschrocken. Es ist generell so, dass Geduld nicht so meine Stärke ist. Wenn zu Hause irgendwas nicht rund läuft oder etwas besser, schneller, effizienter, kostensparender gemacht werden kann, dann weise ich immer darauf hin. Wenn das dann aber nicht funktioniert und keine Änderung eintritt und andere im Haushalt diese Verbesserungsvorschläge nicht beachten, dann kann ich schon ungeduldig werden. Und das auch verbal, mit Nachdruck, laut ... richtig unangenehm.

    Bloß warum habe ich mit J eine undendliche Geduld gehabt? Warum habe ich überhaupt mit meinen Arbeitskollegen 1000x mehr Geduld als mit meinen Verwandten, den Menschen also zu denen ich eine viel tiefere Beziehung habe, als zu Freunden oder Arbeitskollegen? Warum fragt mich meine Mutter nach einer Lösung am Computer und ich reagiere häufig über, wenn aber ein Arbeitskollege etwas fragt, dann erkläre ich das auch 10x oder 20x immer wieder, ohne Grant, ohne Vorwurf.

    Das also hat mir J aufgezeigt. Dass ich geduldig, nachsichtig, hilfsbereit, selbstlos sein kann - und es gerade bei meinen engsten Verwandten so oft nicht bin. Für diese Erkenntnis bin ich ihm sehr dankbar.

  • tricky: Eine spannende und neue Perspektiven öffnende Beobachtung hast Du gemacht, weil Du entdeckt hast, dass Du verschieden geduldig mit verschiedenen Personenkreisen umgehst.

    Ein Schlüssel scheint mir die Erkenntnis zu sein, dass unser Verhalten stark davon abhängt, was wir von anderen erwarten. Wir sind also beispielsweise häufiger enttäuscht, wenn wir zu hohe Erwartungen haben.

    Ich habe schon ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich nicht sehr viel stressfreier leben und mit anderen umgehen könnte, wenn ich mich entschlösse, ausnahmslos alle Menschen, die mir begegnen, als Freigänger aus einer Irrenanstalt anzusehen, deren beschränkten Möglichkeiten und deren eingeschränkter Fähigkeit, zur Konfrontation mit der Realität, ich mit Geduld und Nachsicht begegnen sollte, etwa wie ein Sozialpädagoge, der zufällig so einem irren Freigänger begegnet. Dann wäre es gar keine Frage mehr, ob mein Gegenüber völlig klar denkt und durchgängig vernünftig und maßvoll oder empathisch und rücksichstsvoll handelt; sondern es stellte sich eigentlich nur die Frage, worin sein spezieller Wahn und/oder sein spezieller Mangel an Sozialkompetenz besteht, auf den ich Rücksicht nehmen muss, weil er in der Regel unheilbar ist. Rücksicht, etwa so, wie man auf kleine Kinder Rücksicht nimmt oder auf Schwachsinnige -- oder auf den Bewohner einer Irren-WG, der über den Hofeingang an eine Wohnung kam, und mit dem ich vorsichtig, geduldig und aufmerksam sprach; weil ich wußte, dass seine Aufnahmefähigkeit beschränkt und er vermutlich leicht zu irritieren ist. Auch wenn das ein Gedankenspiel ist, scheint es mir sehr viel realistischer, als die meisten werden zugeben wollen.

    Es ist nicht die Frage, ob jemand einen Tick hat; sondern nur, welche Ticks er hat.

    Mit herzlichen Grüßen
    Euer Pfleger ;)

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    1. Thessalonicher 5, 21.22

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    5. Mose 30, 19

    Einmal editiert, zuletzt von Daniels (22. Januar 2015 um 15:15)

  • Deren eingeschränkter Fähigkeit, zur Konfrontation mit der Realität, ich mit Geduld und Nachsicht begegnen sollte

    Hallo Daniels
    Interessante Gedanken, die Du hast. Ich finde Dein "Gedankenspiel" gar nicht mal so unrealistisch. "Erkenne Dich selbst" ist ein alter und weiser Spruch, aber der Druck der "heutigen Welt" ist derartig, dass viele Menschen sich tatsächlich in einer Identitätskrise befinden. Sie wissen nicht, wer sie wirklich sind. Das liegt viel an der heutigen Betonung auf dem "Tun" anstatt dem "Sein". In unserer Gesellschaft ist es wichtig, was wir tun, wie viel wir erreichen, was wir zuwege bringen. Während sich viele Menschen darauf konzentrieren, kann es möglich sein, dass wir uns die Frage stellen, wer wir wirklich sind. Bis wir diesbezüglich etwas Erkenntnis und Sicherheit gewinnen, kann viel Zeit vergehen. Ich denke, dass dieser Mangel an persönlicher Identität oder Realität auch viel daran liegt, dass viele Menschen heute in einer Fantasiewelt leben. Eine Welt, die durch TV, Radio, Internet und Games hervorgehoben wird. Auch die "deprimierende Hoffnungslosigkeit" der "realen Welt" wird "medial gefördert". Weil viele Menschen mit der Komplexität und Größe der heutigen Krisen nicht fertig werden (können), reagieren sie entweder mit stumpfer Apathie, verleugnen das es "Troubles" gibt, oder ziehen sich in eine gefährliche Welt der Illusion zurück.

  • Ich habe schon ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich nicht sehr viel stressfreier leben und mit anderen umgehen könnte, wenn ich mich entschlösse, ausnahmslos alle Menschen, die mir begegnen, als Freigänger aus einer Irrenanstalt anzusehen, deren beschränkten Möglichkeiten und deren eingeschränkter Fähigkeit, zur Konfrontation mit der Realität, ich mit Geduld und Nachsicht begegnen sollte, etwa wie ein Sozialpädagoge, der zufällig so einem irren Freigänger begegnet. Dann wäre es gar keine Frage mehr, ob mein Gegenüber völlig klar denkt und durchgängig vernünftig und maßvoll oder empathisch und rücksichstsvoll handelt; sondern es stellte sich eigentlich nur die Frage, worin sein spezieller Wahn und/oder sein spezieller Mangel an Sozialkompetenz besteht, auf den ich Rücksicht nehmen muss, weil er in der Regel unheilbar ist. Rücksicht, etwa so, wie man auf kleine Kinder Rücksicht nimmt oder auf Schwachsinnige -- oder auf den Bewohner einer Irren-WG, der über den Hofeingang an eine Wohnung kam, und mit dem ich vorsichtig, geduldig und aufmerksam sprach; weil ich wußte, dass seine Aufnahmefähigkeit beschränkt und er vermutlich leicht zu irritieren ist. Auch wenn das ein Gedankenspiel ist, scheint es mir sehr viel realistischer, als die meisten werden zugeben wollen.

    Daniels, ich musste bei diesem Beitrag ordentlich lachen. Du sprichst mir aus der Seele. :weird: :verwirrt:
    Deine Gedanken sind gar nicht so abwegig, ich arbeite bereits seit Jahren an der Umsetzung deines Gedankenspiels.
    Leider passiert es mir immer wieder, dass ich wohl zu viel von meinen Mitmenschen erwarte.

    LG

    Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist es unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich
    (Matthäus 19, 26)

  • Zitat

    Auch wenn das ein Gedankenspiel ist, scheint es mir sehr viel realistischer, als die meisten werden zugeben wollen.

    Daniels:

    Das Problem bei der Umsetzung ist aber, dass wir selbst alle die "Freigänger der Irrenanstalt" sind :D

    Wir haben diese Geduld oft nicht, weil wir mit unserem eigenen "Wahn" auf den anderen Irren reagieren.

    Oder biblisch ausgedrückt: Wir sind alle Sünder.

    Außerdem: es wäre doch schade, wenn man versuchte, andere konsequent als kranke Irre zu betrachten, oder?

    Des Weiteren würde in dieser Betrachtung ein gravierender Fehler vorliegen:

    nämlich der Gedanke, das eigene Handeln würde sich bessern, wenn man andere als "krank" ansieht.

    Es bessert sich aber nur, wenn man sich selbst als krank erkennt ;)

    Aber nimm´s mir bitte nicht zu moralisch ab. Ich hatte deinen Gedankengang auch schon :D

    Hatte auch mal überlegt, was wäre, wenn ich mit allen Leuten so umgehen würde, wie mit meinen Patienten. Konsequent durchgedacht wäre das aber echt schrecklich;
    sowohl für die Umwelt als auch für mich. :D

    LG

  • Das Problem bei der Umsetzung ist aber, dass wir selbst alle die "Freigänger der Irrenanstalt" sind :D

    Wir haben diese Geduld oft nicht, weil wir mit unserem eigenen "Wahn" auf den anderen Irren reagieren.

    Oder biblisch ausgedrückt: Wir sind alle Sünder.

    [...]

    Es bessert sich aber nur, wenn man sich selbst als krank erkennt ;)


    Ich denke oft relativ konsequent logisch, deshalb nimmt mein Gedankenspiel -- für mich selbstverständlich -- auch mich nicht aus. Aber ich bin es gewöhnt, dass man den selbstkritischen Anteil meiner Gedanken unterschätzt.

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    1. Thessalonicher 5, 21.22

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    • Offizieller Beitrag

    wollte mal fragen, ob es schon was neues von deinem "Schützling" gibt. :)

    Ich weiß eigentlich nur, dass er derzeit wieder in Ausbildung ist. Ich weiß nicht mal genau was es ist. Das Ziel seiner weiteren beruflichen Laufbahn ist es, dass er in eine Lehre eintritt. Diese Lehre wird von einem gestützten (durch ein Förderprogramm bezahlt) Lehrer begleitet. Die Pläne, die ich mit J hätte wären, wie ich vermutlich schon mal beschrieben habe, dass er bei uns die Archivierung übernimmt.
    Derzeit hat die schon überfällige Archivierungsarbeit eine Studentin übernommen. Diese Studentin kennt unseren Betrieb schon von wichtigen Aushilfstätigkeiten (Urlaubsvertretung) und kommt einmal pro Woche um die angefallenen bzw. schon lange liegen gebliebenen Akten zu sortieren und einzuscannen. Sie studiert Psychologie und Mathematik (interessante Kombo) und möchte mal im Lehramt tätig sein. Sie ist für den Job also 1000x überqualifiziert. Außerdem ist es ja nur auf Zeit bei ihr, sie verdient sich quasi einfach so was leicht dazu.
    Mit ihr gemeinsam habe ich eine ausführliche Doku erstellt, die (wenn ich mich jetzt richtig erinnere) leider noch nicht ganz fertig ist. Diese Doku ist der erste Schritt für J, dass er sich den Job im Herbst mal ansehen kann.

    Daniels hat mich auf den Gedanken gebracht, der eigentlich selbstverständlich sein sollte: J sollte Freude an der Arbeit haben und sich selbst FÜR den Job, den er mal macht entscheiden. Daher wird es für mich eine Priorität sein es herauszufinden ob ihm dieser Job Spaß macht. Das ist gar nicht so leicht, da soziale Kontakte für J ja (zumindest anscheinend...und auf die Beeinträchtigung bezogen) nichts besonders wertvolles sind. Macht ihm ein Job also wirklich Spaß, oder macht er ihn halt einfach so. Das wäre für mich eine enorm wichtige Information bzw. werde ich alles daransetzen das herauszufinden.


    Hattet ihr nochmal Kontakt?

    Nein, nach unserer Praxiswoche war kein weiteres Treffen. Sein Vater arbeitet öfter bei uns, wenn Elektrikerarbeiten anstehen. Dann unterhalten wir uns machmal über ihn, wenn ich frage, wie es J geht. J hat noch drei Geschwister, zwei ältere Brüder und eine ältere Schwester. Die sind natürlich auch manchmal Thema mit Js Vater, einer von seinen Brüdern hat bei uns Zivildienst gemacht (und studiert auch gerade Mathematik fürs Lehramt).


    Ich werde gerne ab Herbst weiter berichten.

    • Offizieller Beitrag

    So, eigentlch hätte ich schon viel früher schreiben müssen. Ein kleines Update also, was in den letzten Monaten passiert ist.

    Ende Juni hat sich die Förderstelle von J bei mir gemeldet und wir haben einen Termin im August vereinbart, wo wir zusammen mal besprechen, ob und wie eine Anstellung von J bei uns in der Firma möglich ist. Die zuständige Bezugsperson von J bei der Förderstelle hat mich darauf verwiesen, dass er für diesen Teil nicht mehr zuständig ist und dass stattdessen eine andere Person mit den weiteren Details und Kontakten zuständig ist. Mit dieser haben wir dann den Termin wahrgenommen, auch unser Personalchef war dabei, einfach um J auch mal besser kennenzulernen. Wir haben vereinbart, dass wir uns im Herbst (Oktober) mit der Studentin V. mal zwei Termine vereinbaren, wo J sich die Arbeit des Scanens ansehen kann und wo er dann auch unter Anleitung mal selbst probieren kann, inwieweit ihm diese Arbeit Freude macht und er sie auch für längere Zeit (Anstellung mit 15 Wochenstunden, 3 x pro Woche je 5h) im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses selbsttätig durchführen wird.

    Die Termine sind positiv verlaufen und ich habe die Dokumentation der Arbeitsvorgänge angeordnet, damit wir auch intern eine gute Dokumentation der Vorgänge haben. PC Eingaben, das Scanen an sich und auch das Zuteilen zu einem Kunden (bereits in der Datenbank vorhanden!) sind an und für sich nicht schwer, wären da nicht diese irrsinnig vielen verschiedenen Dokumentenkategorien. In der Hauskrankenpflege kommt einem einfach auch immer wieder was unvorhergesehenes unter und wie mit solchen Dingen dann umgehen, das wird die größte Herausforderung für das kommende halbe Jahr, wo das Dienstverhältnis jetzt mal läuft.

    Mir ist es auch diesmal wieder schwergefallen aus J eine konkrete Gefühlsregung zu der Arbeit zu bekommen. Gefällt es ihm? Macht ihm das Spaß? Es ist ja schlußendlich eine einsame, im hintersten Winkel des Büros (eigenes kleines Zimmer, großes Fenster, Glaswand) zu verrichtende Arbeit, und vor allem...immer das gleiche. Aber ich habe mit der Arbeitsassistenz (Frau F) gesprochen und mit Js Vater, der gemeint hat, dass er zu Hause stolz war auf seine Arbeit und dass es ihm Freude macht. Gut, darauf und auf den Gesichtsausdruck von J von vor 2 Wochen, wo ich ihn das letzte Mal sah, verlasse ich mich jetzt einmal. Am Montag beginnt er und für die erste Zeit wird auch noch ein Jobcoaching dazukommen. Der Jobcoach soll J in den ersten Wochen noch begleiten und ihm die restliche Sicherheit geben. Vor allem aber ist sie dafür da, dass ich nicht erste Ansprechperson für J sein muss. Warum? Einfach weil mir die Zeit fehlt und weil ich durch die anderen Tätigkeiten, die ich ausfülle auch oft nicht verfügbar bin. Es würde mir sehr leid tun, wenn J in der Arbeit auf irgendetwas stößt, das er nicht gewohnt ist und er dann niemanden hat, der ihm weiterhilft.

    Für zukünftige Aufgaben werden wir J auch noch vorbereiten, denn wir haben ein recht großes Bildungszentrums-Archiv, das derzeit nur in Papier vorhanden ist, aber wie unser Kundenarchiv eben wächst und wächst. 30 Jahre Aufbewahrungsfrist für unsere Pflegedokumentationen und den Kundenbetreuungssverlauf sind ganz schön heftig. Entweder man mietet sich hierfür dann Platz dazu (teuer...schwer zu durchsuchen), oder man scant eben alles ein und vernichtet die Originale dann.

    Bei einer unserer nächsten büroweiten Besprechungen, werden wir auch gemeinsam mit der Arbeitsassistenz allen Kollegen im Büro J vorstellen und auch Fragen zum Verhalten ihm gegenüber beantworten.

    • Offizieller Beitrag

    Mal wieder ein kleines Update zu unserem neuen Mitarbeiter J:

    Seit Mitte Dezember arbeitet J fix bei uns in der Firma als Archivar. Er ist immer noch sehr schweigsam, das Reden liegt ihm einfach nicht. Trotzdem macht er mit seinen 20 Wochenstunden einen zuverlässigen, guten Job. Zu Beginn des Jahres war es noch so, dass wir von einer Förderstelle eine Hilfskraft für J zugewiesen bekommen haben, die ihn für 6 Monate (also bis Anfang Juni) stundenweise begleitet hat. Mit ihr gemeinsam hat J viele Arbeitsschritte dokumentiert und verinnerlicht, sodass er jetzt eine gute, regelmäßige Arbeitsroutine gefunden hat. Auch ein Problem mit der Toilette haben wir mit Ihrer Hilfe gut in den Griff bekommen. Man denkt ja gar nicht daran an welchen Banalitäten so eine Anstellung auch scheitern kann.

    Was mich an der ganzen Sache noch sehr stört ist die mangelnde Integration in die Firma. Wie soll das gelingen bei/mit einem Menschen, der sich nicht mitteilt, sondern auf Fragen lieber mit einem Kopfnicken antwortet als mit Worten? Ich habe Js Vater gefragt, ob er etwas erzählt von seinem Alltag in der Firma, ob es irgendwelche Anzeichen gibt dafür, dass er auch selbst mehr Integration wünscht. Nichst. J redet zu Hause auch nicht mehr als bei uns in der Arbeit. Kommunikation ist also sehr reaktiv und dann eben auch sehr einsilbig. Es scheint so als ob sich J sehr wohl fühlt in seinem streng geregelten Arbeitsablauf, seinem einsamen Zimmer und den vielen Akten, die er für uns ins System einpflegt.

    Mit all den Fördermöglichkeiten und den Begünstigungen für die Anstellung von behinderten Menschen in Österreich stellt J für uns keine nennenswerte finanzielle Belastung dar. Ich sage das nur dazu, weil jede Stelle, die wir als non-profit Unternehmen schaffen auch finanziert werden muss. Das Sozialministerium fördert und die Ausgleichstaxe, die man in Österreich für das Nicht-Anstellen von Personen mit Behinderung entrichten muss, wird reduziert.

    • Offizieller Beitrag

    Nach langer Zeit wieder ein Update zu meinem autistischen Freund und Mitarbeiter.

    J arbeitet jetzt seit 2016 fest in der Firma mit. Sein Arbeitsbereich als Archivar hat sich seit 2016 kaum verändert, aber er freut sich über Abwechslung in seiner Arbeit. Da ich seinen Vater in den letzten Monaten immer wieder getroffen habe, habe ich erfahren, dass er sich doch auch manchmal eine andere Arbeit wünscht, zumindest zur Abwechslung. Deshalb habe ich für J auch andere Tätigkeiten zu finden versucht. Einerseits das Vorbereiten von Betreuungsmappen für Neukunden und andererseits die Vernichtung seiner eingescanten Dokumente mittels Aktenvernichter. Die Aktenvernichtung dürfte ihm einen großen Spaß machen. Aber so genau weiß ich das auch nicht, weil er selbst nicht so viel darüber redet.

    J hat vor ein paar Monaten eine neue "Therapie" begonnen. Ich weiß nicht, ob man Therapie dazu sagt. Vielleicht ist das auch eine Art Schulung. Jedenfalls zielt die darauf ab, dass er mehr spricht und seinen Mutismus überwindet. Und das klappt erstaunlich gut. J kommt mittlerweile manchmal den Weg von seinem Büro zu mir, nur um mir etwas, zwar einsilbiges, aber immerhin, mitzuteilen. Was mich an den Infos, die ich so bekomme wundert ist, dass sie nicht immer funktionszentriert sind. Er kommt und sagt mir, dass etwas geklappt hat oder dass er etwas nicht mehr braucht. Das mag für euch jetzt vielleicht selbstverständlich klingen, aber bisher bekam ich von J niemals so ein Feedback. Infos, die nicht notwendig sind, werden nicht gegeben, so kannte ich J bis vor ein paar Monaten.

    Insgesamt geht mit Js Therapieerfolg (ich nenne es jetzt mal so) auch einher, dass er sich mehr für seine Umwelt interessiert oder dass er es jetzt eben in Worte fassen kann. Zum Beispiel fragt er jetzt jeden, den er im Büro antrifft nach seinem Geburtsdatum. Und merkt sich diese wahrscheinlich auch recht gut. Und was mich besonders freut ist, dass er sich mit seinem Arbeitsplatz und seinem Job mehr und mehr identifiziert. So fragte er kürzlich nach, warum auf seinem Büro (das ist ein durch eine Glaswand+Glastüre getrennter Bereich in der Datenpflege) kein Schild steht. Also ein Schild, wo steht, wer da arbeitet und was der Aufgabenbereich ist. Ich dachte bisher, dass J sich aus so etwas nichts macht, aber möglicherweise konnte er es bis jetzt einfach nicht formulieren und hat sich vielleicht sogar gekränkt, dass er so etwas nicht hat (zumindest hat mir ein Kommentar zu diesem Umstand von einer Arbeitskollegin ein wenig ein schlechtes Gewissen gemacht). Natürlich hat J umgehend danach ein Türschild bekommen, wo jetzt draufsteht J – Archivar. Ich fand den Titel oder die Jobdescription Archivar einfach originell und ich habe ihm dann auf seine Nachfrage warum da Archivar drauf steht erklärt, dass das eine einzigartige Position im Unternehmen ist und er der einzige Archivar ist. Das hat ihm gefallen – glaube ich/hoffe ich.
    Mit Js Erfolgen beim Kommunizieren komm jetzt auch mehr Forderndes von ihm. So hat er mich vor kurzem gefragt, ob er einen neuen Scanner bekommen könnte. Unser alter Scanner ist von 2006 oder 2007 und war damals recht teuer, deshalb habe ich ihn bis jetzt nicht ausgetauscht, aber im Zuge seiner Anfrage habe ich seinen PC + seinen Scanner erneuert. Die damit einhergehende Mühe (es hat sich mit dem Update des Betriebssystems auch sein Arbeitsprogramm – BMD! geändert) habe ich unterschätzt und es war mir teilweise auch echt unpassend mich immer wieder damit zu befassen. J kommt einfach mit jedem Problem zu mir…einerseits ist das ok und gut, andererseits muss ich dann jedes Mal (auch wenn ich gerade in einem Budgetthema drin bin und in Excel Verknüpfungen festhänge) aufstehen und mit ihm zu seinem PC gehen um das Problem zu lösen. Das behindert mich in meiner Arbeit, gerade wenn es um Konzentration und Ausdauer geht, stark. Und trotzdem lehrt es mich Geduld. Und die Probleme, die er hat sind manchmal so einfach zu lösen: Einfach ein Klick auf eine Meldung, die eine Info gibt mit OK reicht. Dann kann er schon wieder weiterarbeiten. Wobei ich ja auch nicht weiß wie viele solcher Meldungen er sowieso schon selbst checkt, aber gefühlsmäßig sind es nicht viele. Manche Probleme mit denen er kämpft sind auch „wirkliche“ Probleme mit dem Programm oder wenn etwas nicht funktioniert, so wie es soll. Diese binden mich dann für 1 – 2 Stunden, was wirklich unangenehm ist.
    Hinzu kommt auch, dass mit Js Therapieerfolgen natürlich auch sein Selbstbewußtsein steigt. Wenn er bspw. mit einem Problem zu mir kommt und ich ihm sagen muss, dass ich gerade keine Zeit habe, dann fragt er mich mit bestimmtem Ton wann ich Zeit hätte und wann ich komme. Wenn ich dann sage „in 30 Minuten“ oder „in 10 Minuten“, dann muss ich diese Zeit auch einhalten, denn nach Ablauf der Zeit steht er sicher wieder bei mir. Vieles funktioniert bei ihm einfach zeitgesteuert.

    Letztens hatte ich, kurz nach einer Besprechung einen Anruf am Handy. Eine mir unbekannte, aber sichtbare, Nummer rief an und nachdem ich meinen Namen sagte kam gar nichts – intuitiv fragt man dann nach bzw. sagt seinen Namen nochmal, weil man denkt, dass das Gegenüber vielleicht nicht gleich verstanden hat, aber auch darauf kam nichts. Normalerweise lege ich, wenn daraufhin nichts kommt, einfach auf. Ich hatte das schon manchmal, dass ich angerufen werde, weil jemand sein Handy nicht displayversperrt in die Tasche legt und das Handy dann einen Kontakt anruft. Man kann dann mithören, was auf der Gegenseite so geschieht, vielleicht kennt ihr diese Situation. Ich hatte auch schon Sprachboxnachrichten solcher Art. Jedenfalls habe ich, ich weiß auch nicht warum, nicht aufgelegt und nach 10 Sekunden Stille (beim Handytelefonieren ist das eine Ewigkeit) meldete sich J, ob ich jetzt in meinem Büro sei. Ich wußte gar nicht wie mir geschieht, weil ich mir dachte, ob das für ihn jetzt eine Riesenüberwindung war mich anzurufen, oder ob er das eh öfter macht. Jedenfalls ist seine Nummer jetzt bei mir eingespeichert und sollte er nochmal anrufen, dann weiß ich, dass ich nicht gleich auflege sondern warte, bis er etwas sagt.

    Zum Schluss noch ein grenzgeniales Detail zu J. Er hat da einen Pullover, den er immer wieder an hat. Da steht etwas drauf…seht selbst:

    Ich habe ihn gefragt, ob ich ein Foto von seinem coolen Sweater machen darf. Und ich weiß nicht, wie ich dieses „seriously“ einordnen soll. Mit all der Erfahrung, die ich mit J habe und mit dem wie ich ihn kenne. Ist das eine Form von Selbstkritik, ist es eine Message, oder nimmt er sich selbst mit diesem Spruch auf die Schaufel? Ich finde es jedenfalls super und nett und subversiv/selbstreflektiv. J wächst mir ans Herz.

    Wenn jemand Fragen zu den Zeilen hier hat, gerne…

    • Offizieller Beitrag

    Ach ja, was ich noch vergessen habe. J stellt mir in letzter Zeit auch immer wieder unerwartete Fragen. So habe ich letztens ein Problem bei ihm am PC zu lösen versucht (und gelöst!), aber während des Prozesses fragt er mich auf einmal "Sind Sie (er wechselt in der Anrede viel zwischen Sie und Du) Humanist?" vielleicht war es auch "Bist du ein Humanist?". Ich war sehr perplex und habe die Frage nach einiger Zeit verneint, weil ich mich als Christ sehe, was aus meiner Sicht eine eigene Kategorie von Humanismus ist, aber nicht das, was man landläufig unter dieser Strömung versteht.

    Und letztens habe ich, weil es mich interessiert hat, gefragt, was J am Wochenende so macht. Ich musste gerade auf die Fertigstellung eines Updates an Js PC warten und habe ihn das gefragt. Er hat gesagt, dass er Musik hört. Weil ich so ein Typ bin (ich kann es auch nicht genau erklären), habe ich ihn dann gefragt welche Musik und habe dazu eine ironische Aussage gestellt "Was hörst du für Musik? - AC/DC??" . Normalerweise ernte ich im besten Fall auf diese Aussage ein mildes Lächeln und man unterhält sich dann über die Musik, die man wirklich hört. Nicht so bei J. Er kam in der nächsten Woche zu mir und meinte, dass ihm AC/DC gut gefällt. Aber wollte ich für AC/DC wirklich Werbung machen?? Ich muss ein bisschen aufpassen was ich so von mir gebe, mehr Nachdenken vor dem Reden, denn für J ist vieles ernst, was für mich Ironie oder Sarkasmus ist. Letztens hat er mich gefragt, ob ich das Lied "Deutschland" mag. Ich wußte nicht was er meint, bis er ergänzte "Deutschland von Rammstein". Hm, ja ich kannte das Lied, weil es darum ein kleines Skandälchen gab:
    Rammsteins kalkulierte NS-Provokation ist keine Empörung wert - derStandard.at

    Naja, ich habe J dann gefragt, ob er schon Karten für das Rammstein Konzert in Wien hätte. Das hat er verneint. Ich frage mich, ob ihm diese bombastische Show von Rammstein gefallen würde.

    • Offizieller Beitrag

    Nur mal so nebenbei gefragt, ist es nicht bekannt, dass es Menschen mit Autismus an Empathie fehlt? Interessanterweise sind die besonders mit Inselbegabung ausgestatteten Menschen, die zur Zeit sehr viel Einfluss in unserer Gesellschaft ( durch erlangten Reichtum)haben, auch in Fragen der Impfungen unterwegs.

    Aus der Erfahrung mit mittlerweile zwei Autisten, die bei uns arbeiten. J ist ja von meinen Erzählungen oben bekannt. Und ich habe die Erfahrung, dass die Zuschreibung "Empathie fehlt" bei Autisten nicht zutreffend ist. Auf jeden Fall nicht bei allen. Der zweite Autist, der jetzt bei uns als Programmierer arbeitet ist ein "high functioning" Autist:

    https://autismus-kultur.de/autismus/autip…g-autismus.html

    In dieser Form des Autismus ist die Empathie sogar überbordend hoch ausgeprägt. Teilweise so hoch, dass jede eigene Handlung auf die Reaktion darauf abgewogen wird. Das ist teilweise so extrem, dass es in einer extrem schüchternen, augenkontaktscheuen Zurückgezogenheit endet. Förderung für solche Autisten funktioniert durch den Aufbau von Vertrauen und das Bieten eines sicheren Arbeitsplatzes in dem sie ihre Hochbegabung anwenden können. Schwierig ist es herauszufinden was ihnen gefällt und wie man ihnen entgegenkommen kann, weil pro-aktiv leider kein Feedback von Ihnen kommt. Und ständig nachfragen führt in den meisten Fällen zu Rückzug.

    Eine Jobcoachin von der Autistenhilfe hat es bei ihrem Besuch bei J einmal so ausgedrückt: "Jeder Autist ist anders und hat ganz individuelle Bedürfnisse, Fähigkeiten, Stärken und Eigenheiten. Keiner ist wie der andere" - Das klingt so normal, oder? Warum sollte auch für Autisten anderes gelten als für jeden von uns Supernormalos?

    J hingegen entwickelt mittlerweile eine sehr ausgeprägte und penetrante Ich-Zentriertheit. Da fehlt es definitiv an Empathie, wobei ich mir nie sicher bin inwieweit und ob man das bei dem Krankheitsbild akzeptieren soll/muss. Das Befinden des Gegenübers ist ihm ziemlich egal beim Äußern der eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Beispiel: Wenn J etwas braucht oder wo nicht weiterkommt, dann ist er vor 2 Jahren noch in seinem Arbeitszimmer in sich zurückgezogen sitzen geblieben und hat einfach aufgehört zu arbeiten. Jetzt, wenn es eine Problemstellung bei seiner Arbeit gibt, die ihn aufhält, dann hält ihn nichts auf so lange darauf zu drängen, dass sein Problem behoben wird. Egal in welcher Sitzung oder Situation derjenige ist, der sein Problem lösen kann. J fordert die Problemlösung jetzt und sofort. Teilweise sogar lautstark. Das führt zu Irritationen und durch die Covid-19 Beschränkungen ist seine Unterstützungshilfe leider auch nicht vor Ort. Die könnte das in die richtigen Bahnen lenken. Wir werden sehen wie es sich entwickelt. Mittlerweile klopft er an, bevor er einen Raum betritt und wenn man von drinnen zu verstehen gibt, dass es gerade nicht geht, dann geht er zurück und macht woanders weiter. Ich muss mir immer wieder vergegenwärtigen, dass er diesen Umgang mit anderen nie gelernt hat/lernen musste, weil er bis vor 2 Jahren fast nichts gesprochen hat und natürlich auch den Umgang mit Worten und die daraus folgende Charakterbildung nicht stattgefunden hat. Jeder von uns lernt auch durch Trial and Error. Kein Trial, kein Lernerfolg. Kein Error, kein Lernerfolg. Was macht das mit einem Charakter, wenn man ihn hat, aber ihn nicht proben/üben kann, durch Worte und die Erfahrung mit Worten und Kommunikation?

  • "Jeder Autist ist anders und hat ganz individuelle Bedürfnisse, Fähigkeiten, Stärken und Eigenheiten. Keiner ist wie der andere" - Das klingt so normal, oder? Warum sollte auch für Autisten anderes gelten als für jeden von uns Supernormalos?

    Ja, eigentlich traurig, dass man sowas sagen muss.

    Es sind Menschen.

    • Offizieller Beitrag

    https://www.derstandard.at/story/20001315…oder-superkraft

    Zitat

    Nicht nur Elon Musk und Greta Thunberg gehen offen mit ihrem Autismus um. Über Neurodiversität als Empowerment und möglicher Vorteil in der Wissenschaft

    Ich stelle den Artikel hier ein. Es geht auch viel darum seinen Autismus anzunehmen und die Schwächen und Stärken daraus zu erkennen und das richtige Mittel (und sei es medikamentös) zu finden um damit umzugehen. Interessant an dem Artikel sind auch die Posts darunter. Geben schon einen Einblick dahingehend, wie die mit Autismus diagnostizierten damit umgehen.

    • Offizieller Beitrag

    Was macht das mit einem Charakter, wenn man ihn hat, aber ihn nicht proben/üben kann, durch Worte und die Erfahrung mit Worten und Kommunikation?

    Das sieht aus deiner Perspektive so aus. Aus der Sicht eines Authisten sieht das Ganze wieder anders aus. Es beginnt schon in der Kindheit/Pubertät. Man sagt Dinge, die andere nicht verstehen und ablehnend darauf reagieren. Über die Jahre verfestigt sich das und führt zu Minderwertigkeitsgefühlen: die Angst, etwas falsches zu sagen und ablehnende Reaktionen zu ernten. Nichts sagen ist immerhin besser als etwas sagen, wodurch man sich verletzt fühlt. Ich sehe hier drei Gründe für solche Entwicklungen:

    - Idealistische/perfektionistische Vorstellungen. Man genügt sich selber nicht. Unordnung jeder Art wird als Störung empfunden. Daher neigen die Authisten oft zu einer "eigenen Welt", die sie vollkommen gestalten können (z.B. Hobbies), weil das im gemeinsamen Alltag nicht möglich ist. Im sozialen Umfeld, wo es "unordentlich" ist, sieht die Welt eher depressiv aus. Das führt aber auch dazu, dass die Authisten anderen Menschen die Dinge schwer anvertrauen können, weil die anderen es perfekt nicht meistern (wollen oder können). Der Drang nach Vollkommenheit führt zur Ausprägung eines sehr strukturierten Denkens, sodass man sich oft "im Detail" verliert.

    - Man wird - so wie man ist - nicht akzeptiert. D.h. zur Charakterbildung tragen stark die "Normalen" ein, die einen Authisten nicht annehmen. Anderssein ist in dieser Welt "verpönt", besonders im Schulalter. Wenn sich die Authisten angenommen fühlen (z.b. unter Christen), öffnen sie sich auch deutlich mehr. Zu der "Welt" bleiben sie jedoch auf Distanz. Smalltalks interessieren sie nicht - das ist unecht. Die entscheidende Grundvoraussetzung für die Kommunikationsfähigkeit in einer Gruppe ist, dass man sich gegenseitig annimmt. Damit sind die Authisten auf ihre Art sehr empathische Menschen.

    - "Trial and Error" funktioniert oft nicht. Was für sie oft normal ist, ist für die anderen nicht normal - und umgekehrt. Weil die Reaktion mit Sprache, Mimik und Gestik des Gesprächspartners eingeschränkt oder falsch wahrgenommen wird, kann man ziemlich schwer eigene Worte korrekt reflektieren und daraus lernen. Im Nachhinein erfährt man über Dritte, dass man "ein komischer Vogel" ist, man weiß aber nicht - weshalb. Bei dem Jahresgespräch mit dem Chef ist man sprachlich zurückhaltend - man kann oft nicht einordnen, wie das Gesagte bei dem Chef ankommen würde, und den Job möchte man ja nicht verlieren. Die Kommunikationsentwicklung bei den Authisten verläuft insgesamt deutlich langsamer und weist immer wieder "Lücken" auf.

    • Offizieller Beitrag

    Über die Jahre verfestigt sich das und führt zu Minderwertigkeitsgefühlen: die Angst, etwas falsches zu sagen und ablehnende Reaktionen zu ernten. Nichts sagen ist immerhin besser als etwas sagen, wodurch man sich verletzt fühlt. Ich sehe hier drei Gründe für solche Entwicklungen:

    So wie unter Menschen, die nicht mit Autismus leben, ist die soziale Reaktion und Empathie für soziales Interagieren weniger oder höher ausgeprägt. So ist bei J, den ich oben schon öfter erwähnt habe, in seinen Reaktionen manchmal gänzlich "gefühllos" gegenüber dem was andere machen. Dass er jetzt gerade in ein Meeting reinplatzt, nur weil er bei seiner Arbeit nicht mehr weiterkommt oder bei seinem Bildschirm ein ungewohntes Fenster aufgegangen ist, das er nicht selbst wegdrückt, sondern lieber fragen geht...das ist ihm völlig egal, dass er hier jetzt eine Besprechung stört. Er hat keinerlei Empfindung dafür, dass er die soziale Interaktion anderer stören könnte. Für ihn zählt sein Problem und die Tatsache, dass er nicht weiterkommt, alles andere ist nebensächlich. Zumindest kommt es so rüber, das muss ich auch dazusagen.

    Es fehlt auch an Zurückhaltung. Wenn er am Dienstag immer etwas vom Inder zum Essen bestellen will, dann kommt er in mein Büro ganz egal ob die Türe zu ist oder offen, ob an der Türe steht "Bitte nicht stören", oder ob ich eine Besprechung habe. Er will jetzt was beim Inder bestellen. Und wenn ich nicht gleich mit ihm bestelle, dann muss ich auf die Minute genau angeben wann ich mich bei ihm melde. Tue ich das dann nicht, dann steht er pünktlich wieder in meinem Büro. Wenn man von seiner Beeinträchtigung nicht weiß, dann empfindet man das als extrem unhöflich. Er selbst empfindet aber scheinbar gar nichts dabei. Weil er das bei anderen im Büro, vor allem beim Chef, auch schon gemacht hat und dafür dann auch mal eine schärfere Zurechtweisung erhalten hat, da reagiert er schon auch darauf, er ändert sein Verhalten aber nicht wirklich. Vielleicht fehlt ihm auch die Folgenabschätzung, die jeder von uns hat, wenn etwas zu tun ist, wo man unsicher ist. Man überlegt: "Was könnte mein Verhalten bewirken?" - J macht sowas nicht, oder er misst dem Überlegten keinen Wert bei.

    J beschäftigt sich aber schon auch mit den Problemen anderer, warum? Beispiel: Beim Essen vor ein paar Wochen hatte ich das Thema Impfen mit einer Kollegin, die nicht geimpft ist. Weil das halt jetzt gerade immer wieder Thema ist. J war dabei und hat beim Essen zugehört. Vor ein paar Tagen hat er dann wieder mit mir beim Inder bestellt und nachdem ich die Bestellung aufgegeben hatte, fragt er mich: "Warum lässt sich ... nicht impfen?" - da hab ich ihm dann gesagt, dass er sie selbst fragen soll. Er interessiert sich also für andere. Das Motiv muss ich erst erfragen, ob es Empathie für den anderen ist, oder ein Selbstschutz-Gedanke?

    Damit sind die Authisten auf ihre Art sehr empathische Menschen.

    Ja und nein. Manche sind überempathisch, bei manchen fehlt zumindest anscheinend die Empathie. Manchen steht ihr überempathisches Empfinden aber vielleicht auch einfach nur im Weg und sie können diese Gefühle nicht richtig ordnen. Man müsste ja genauer wissen was da im Kopf eines Autisten vorgeht, wenn er mit einer Situation konfrontiert ist, die Empathie erfordert oder eben die Empathie anregt.