Hallo Schwertwal,
Ich bin seit langem, genau gesagt seit Ende der Siebziger Jahre, bei amnesty international. Da ich Slawistik (Russisch und Polnisch) studiert habe, habe ich mich immer schon für die Menschenrechtslage im Osten Europas interessiert - vor dem Fall der Mauer und danach.
Die Verhältnisse in der russischen Armee und in den Gefängnissen sind verheerend. Ich kenne sie aus Briefen und persönlichen Beschreibungen.
Ich fand die Aktion von Pussy Riots unpassend, respekt- und geschmacklos. Doch diese Aktion rechtfertigte keinesfalls mehrere Jahre Straflager und keinesfalls den Entzug der Kinder. Ich habe Briefe von Nadeschda Tolokonnikova gelesen. Ihre Beschreibungen des Straflagers erinnerten mich an die von Dostojewskij, Solschenizyn oder Abram Terz.
Die Urteile gegen Chodorkowski und gegen Pussy Riots waren Terrorurteile. Zwei von Tausenden von Fällen. Für die Freialassung der Frauen von Pussy Riot und für die von Chodorkowski habe ich gebetet - und natürlich auch für all die Namenlosen mit ähnlichem Schicksal.
Zur Ukraine.
Du schreibst:
"Im Vergleich zum Front National bei der Europawahl haben die Rechten in der Ukraine bei der letzten Wahl doch sehr bescheiden abgeschnitten."
Nun. Wie gingen die letzten Parlamentswahlen (2010) aus?
Janukowitschs Partei der Regionen holte 30%,
Timoschenkos Partei 26%,
Klitschkos Udar 14%,
die Kommunisten 13%,
die rechtsextreme Swoboda 10%.
Janukowitsch war (und ist) ein pro-russischer Oligarch, der mit Pressionen und Betrug regierte und sich bereichert hat.
Timoschenko ist dasselbe in Blau. Ihre Vaterlandspartei ist ungefähr so ultranationalistisch wie Orbans Fidesz oder Front National. Die Pro-EU-Haltung ist imho vor allem aus anti-russischen Ressentiments gespeist und nicht aus urliberaler Toleranz.
Swoboda ist rechtsextrem und hat dieselbe Ideologie wie Ungarns Jobbik oder die NPD. Zu beiden gibt es seit Jahren Verbindungen.
Die Maidan-Proteste sah ich mit viel Sympathie. Das änderte sich Anfang Februar, als die Proteste immer stärker von rechten Schlägern dominiert wurden und als diese Leute offene Gewalt gegen Polizisten und Andersdenkende anwandten. Der "Rechte Sektor" ist ein faschistischer Schlägertrupp. Das Besorgniserregende ist nun, dass Swoboda Schlüsselposten in der Übergangsregierung innehat. Über diese Schlüsselposten bewaffnen sie Swoboda-Anhänger und Mitglieder des "Rechten Sektors", indem vor allem Rechtsextreme für die Polizei und die Nationalgarde rekrutiert werden.
Zu welchen Exzessen das führt und welcher Geist in diesen Kreisen herrscht, zeigt der Überfall der Sowboda-Abgeordneten auf den Chef des staatlichen TV-Senders und das zeigen die pogromartigen Attacken in Odessa.
Sowohl Putin als auch die Kiever halten recht wenig von Menschenrechten. Ich sehe aber in den Kievern aktuell eine grössere Gefahr.
Deshalb übe ich scharfe Kritik an diesen Kräften. Nicht weil ich Putin mag, sondern weil ich die rechtsextremen und faschistischen Schläger für barbarischer und unkontrollierbarer halte.
Man kann das auch anders sehen. Es gibt auch dafür gute Gründe.
Ich bin aus vielen guten Gründen gegenüber den Kiever Kräften skeptischer eingestellt.
Was in den Berichten und Kommentaren der deutschen Leitmedien nahezu völlig fehlt, ist dieses Abwägen und Einander-Gegenüber-Stellen von pro und contra.
Was in den Berichten und Kommentaren der deutschen Leitmedien nahezu völlig fehlt, ist die Kritik an Kiev, an der Bewaffnung rechtsextremer Kräfte, an den anti-demokratischen Einschüchterungsversuchen gegen die Opposition, an den pogromartigen Überfällen gegen pro-russische Teile der ukrainischen Bevölkerung.
Stattdessen finde ich ich fast durchweg eine Art Omertà, eine Art Schweigegebot, was diese Aktivitäten der Kiever angeht.
Stattdessen werden Menschen, die einfordern, dass AUCH über die Menschenrechtsverletzungen der Kiever berichtet wird, in den Leitmedien als Putins "fünfte Kolonne" diffamiert und wegsortiert.
Menschenrechte sind unteilbar. Man darf sie nicht nach Gusto verteilen. Auf das, was die Kiever in diesem Konflikt zu verantworten haben, ist ebenso hinzuweisen wie auf Putins diktatorische Repressionen.
Der Artilleriebeschuss von Städten in der Ostukraine ist masslos und inhuman. Stattdessen muss verhandelt werden auch MIT den Separatisten und nicht nur ÜBER sie.