• Ich habe Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gebraucht, um zu begreifen, welche Bedeutung das Wort Humanismus in der Welt der Evangelikalen hat.

    Wenn ich das Wort Humanismus oder Humanist höre, denke ich an human, also mitmenschlich-menschenfreundlich, und so geht es sicher mindestens 90% aller Europäer. Humanismus oder human ist für die allermeisten nichts Schlechtes, auch nichts Widergöttliches. Wenn ich Humanist höre, dann denke ich an Franz von Assisi, Erasmus von Rotterdam, Janusz Korczak.

    Ich war sehr verwundert, als mir vor 20 Jahren ein evangelikales Traktat in die Hände fiel, in dem der Humanismus als abgrundböse Weltsicht, als die Erfindung Satans und so weiter dargestellt wurde. Wie konnte man Mitmenschlichkeit so verdammen? Wie konnte man Franz von Assisi, Erasmus von Rotterdam, Janusz Korczak so verunglimpfen - noch dazu im Namen Jesu?

    Seit dieser Zeit waren Evangelikale für mich üble Sektierer, die in ihrer Verblendung Rufmord begehen. Und alle meine Bekannten, Kollegen, Freunde sahen das ganz ähnlich wie ich. Auch sie meinten, wer wie die Evangelikalen Humanität und Mitmenschlichkeit als widergöttlich und böse verdammt, sei nicht bei Sinnen und schon gar nicht christlich.

    Erst viel später habe ich begriffen, was Evangelikale unter "Humanismus" verstehen, nämlich die Arroganz und Selbstherrlichkeit des Menschen, den Machbarkeitskult und primitiven Materialismus.

    Wer den Begriff "Humanismus" dazu verwendet, um diese Art von Verblendung zu charakterisieren, der hat imho keinerlei Ahnung vom allgemeinen Sprachgebrauch des Wortes, der missachtet historische Tatsachen, nämlich die Mehrdeutigkeit des Begriffs, der hat sich abgeschottet, der schmort nur noch im eigenen Saft und darf sich nicht wundern, wenn er kaum jemanden mit seinen Traktaten erreicht, stattdessen Missverständnisse auslöst und die meisten Menschen abstösst.

    Das scheint mir - teilweise zumindest - auch bei den Adventisten ein Problem zu sein.

    Wäre es nicht weitaus sinnvoller, mit einfachen Worten wie im Vaterunser, oder mit Bildern wie in den Gleichnissen vom verlorenen Sohn oder barmherzigen Samariter Mission zu betreiben oder die eigene Sicht darzustellen?
    Und den Begriff Humanismus zur Beschreibung von menschlicher Selbstherrlichkeit, Machbarkeitskult und primitivem Materialismus fallenzulassen?

    • Offizieller Beitrag

    ... in dem der Humanismus als abgrundböse Weltsicht, als die Erfindung Satans und so weiter dargestellt wurde. Wie konnte man Mitmenschlichkeit so verdammen? ....


    Ich denke nicht dass man etwas leichtfertig und unreflektiert "verdammen" sollte, aber wie Du selbst schreibst hat der Begriff eine gewisse Mehrdeutigkeit.
    Das wesentlich ist in meinen Augen den Unterschied im Menschenbild nicht zu übersehen, denn das menschenzentrierte Bild des Humanisten ist dem gottzentrierten Bild des Gläubigen entgegengesetzt. Nächstenliebe sollte nicht mit Humanismus verwechselt werden, so wie die positiven Aspekte des Humanismus nicht ignoriert werden sollten.
    .

    Liebe Grüße, Heimo

  • Menschino:

    es stimmt, was Du schreibst! Der Begriff "Humanismus" wird grade von religiösen Gruppen oft missbräuchlich verwendet; ich habe mich selbst auch schon dabei ertappt, dass ich schnell von "DEM Humanismus" spreche, eigentlich aber nur gewisse negative Entwicklungen unserer Gesellschaft meinte.

    Doch sollten wir uns alle vor Augen halten, was wäre, wenn wir diesen "Humanismus" nicht gehabt hätten..

    Mir fiel es hin und wieder bei einigen Predigern auf, die ich mir anhörte, welche ebenso negativ von "DEM Humanismus" sprachen, und mir der Gedanke kam: "Hätte es ihn nicht gegeben in unserer Kulturgeschichte, dürftest du überhaupt nicht predigen!"
    Die Tatsache, dass heute jeder bei uns reden darf, schreiben darf, eine Gemeinde oder einen Verein eröffnen darf etc., ist bestimmt NICHT den Volkskirchen oder dem Preußentum geschuldet!

    Dass alles immer auch negative "Ausschläge" hat, ist klar, aber das ist nicht das Problem den Humanismus, sondern es ist einfach der Mensch.

    Mir fehlt im Humanismus allerdings der Bezug auf etwas, und ich denke dort liegt das Hauptproblem:

    Humanismus und Humanität (die du auch ansprachst), sind nicht das gleiche! Humanität ist "menschliches Handeln"; meinetwegen "Nächstenliebe"; das sind erstmal rein ethische Begriffe.

    Humanismus ist eine Geisteshaltung! In der Renaissance wurden die antiken Sprachen wieder-entdeckt (Griechisch & Latein) und damit vor allem das hellenistische Gedankengut der Philosophen (also der Griechen und Römer): Plato, Aristoteles, Seneca, Cicero usw.

    Die meisten alten Philosophen waren Natur-Philosophen: sie schlossen zwar Gott oder Götterwelten nicht aus (jeder Humanist kann Theist sein), aber Ontologie war nicht das zentrale Thema, sondern das, was man vorfindet: Natur und Mensch.

    Der Mensch wurde als Wesen "um seiner selbst willen" ins Zentrum gestellt, das durch Bildung und Charakterschule den guten Kern (den Geist) zum Herrn über das schwache Fleisch machen kann. "Fleisch" nicht wie in der Bibel mehrdeutig gedacht, sondern ganz gnostisch: Der Körper ist schlecht (weil vergänglich), die Vernunft ist gut (letztlich der "Gott des Daseins").

    So glaubte Sokrates laut Plato (sicher in bester Absicht): "Der Mensch kann nicht entgegen seines Gewissens und seiner Vernunft handeln!" - Ich denke, der Mensch hat zur Genüge bewiesen, dass er das absolut kann!

    Die Aufklärung stellte die Vernunft an die höchste Stelle: Man muss nur sittlich und vernünftig sein, dann funktioniert doch alles! Alle Wahrheit findet der Mensch in sich selbst.

    Heute wissen Hirnforscher, dass unsere Vernunft extrem "klein" ist! Wir sind total emotional gesteuert (oder mit Luthers Worten: "Die Vernunft ist eine Hure!")

    Der Humanismus hat stark zur Lösung von Dogmen beigetragen und zur Bildung der Menschen, was hoch anzurechnen ist! Wir dürfen uns hier in Europa sehr glücklich schätzen.

    Aber er bezieht sich nur auf sich selbst: Der Mensch ist würdig, weil er Mensch ist! - Das ist eigentlich Blödsinn.

    Der Mensch ist ein "Tier" (animalus = Lebewesen) unter anderen "Lebewesen"; was ja alle Atheisten selbst heute sagen!

    Ohne Gott betrachtet ist der Mensch nur eine Spezies, die sich ein paar tausend Jahre durchsetzt, bis sie wieder stirbt oder von anderen Arten dominiert wird.

    Das ist der Hauptfehler des Humanismus: er bietet (scheinbar verlockend) an, dass man sich seinen Wert selbst kreieren kann/ muss.
    Genau das haben wir heute: lauter Menschen, die in einen "leeren Raum" konstruieren, um selbst zu werden. Alles mit dem Wissen, dass ihr Dasein eigentlich vollkommen belanglos ist.

    Menschen werden zunehmend depressiver, arbeitsunfähiger und Sozialkompetenzen bekommen immer mehr Risse. Das ist die Schattenseite, denke ich, die (wie auch immer geartete) religiöse Menschen in dieser Form glaube ich nicht haben.

    Wir brauchen Resonanz! Wir müssen uns auf etwas beziehen können, was uns Wert zu-spricht! Hier hat der Humanismus nur "sich selbst", die Mitmenschen oder Eltern etc.

    Auf den Menschen zu setzen ist allerdings eine sehr labile Grundlage, denn der Mensch ist bekanntlich heute so und morgen so; er ist launisch und immer ge-trieben.

    Gott ist unveränderliche Wahrheit! Nicht, weil wir das beweisen könnten, sondern weil der Begriff "Gott" das schon impliziert (erstmal unabhängig von den bestimmten Vorstellungen!).

    Das nächste Thema ist dann natürlich: Was für ein Gott ist das, an den ich glaube? Liebt er mich, was will er von mir usw. Das ist die nächste Frage.

    Aber ganz grundsätzlich (philosophisch) gesehen ist "Gott" ein Wesen, das mein Dasein sinnvoll macht, denn er hat mich ja scheinbar gewollt, sonst wäre ich nicht da.

    Hier mangelt es dem Humanismus, denke ich.

  • welche Bedeutung das Wort Humanismus in der Welt der Evangelikalen hat.


    Nicht nur bei Evangelikalen.

    Lasse mich vorschlagen, einmal bei Wikipedia unter diesem begriff nachzulesen und dann auch unter "Humanistische Psychologie" Gerade gegen letztere wandten sich nach meiner Erinnerung die evangelikalen Pamphletchen - im Ton vielleicht etwas wenig kultiviert, in der Sache nicht ganz falsch - ivh habe vor kurzem einen ganzen Stoss,den ich zum Teil vom Unionsbüro (!) bekam, weggeworfen.

    Die humanistische Psychologie hatte ab etwa 1965 - 1970 grossen Einfluss auf Psychotherapie, Sozialarbeit und Erziehung. Das auf die verscheidenen Schulen passende Motto war "Erkenne deine Bedürfnisse und erfülle sie dir". Kritisch hat ein führender Psychoanalytiker dazu bemerkt, dies sei eine Umkehr der Freudschen Postulats : "Vom Lustprinzip zum Realitästprinzip" - man lasse die Realität jetzt beiseite und predige die schrankenlose Lust.

    Beispiele : Der Therapeut , nach Selbsteinschätzung ein hemmungsloser Gruppenvoyeur, ist stolz darauf, von einer Gruppe beinahe einmal erscshlagen worden zu sein und weiters, schon mehrfach in seinen Grtuppen ganz reale Vergewaltigungen erlebt zu haben. Solche Erfahrungen bereichern das Leben. Die "Lehrtherapeutin" kündigt ein mehrjähriges sechswöchentllches Ausbildungswochenende -gegen teures Geld - an - und verschwindet mittendrin - ihr Bedürfnis sei es halt gewesen, nach den USA zu gehen. Als der Therapeut, ein Expriester, erfährt, eine seiner Patientinnen sei im Rahmen einer Wochenendtherapie durch einen One Night Stand schwanger geworden ( für sie unter anderem eine persönliche, familiäre und soziale Katastrophe) bricht er in schallendes Gelächter aus : Die soll froh sein, dass einmal wenigstens einer über sie drübergefahren ist. Ein Therapieteilnehmer verlässt Ehefrau und Familie wegen eines anderen Ehefrau : Man hat halt seine Bedürfnisse, jeder ist seine Glücke Schmied. Als diese ihn dann verlässt,Zorn, Geschrei : Wisse die nicht , wem sie gehöre, wie komme er dazu - -.

    Der Münchner Psychiater Görres wies darauf hin, dass diesen Leuten das Unrechtsbewusstsein wegtherapiert wurde, sie aber auf einmal dieses sehr wohl haben, wenn ihnen Unrecht passiert. dazu wurden äusserst effektive Techniken entwickelt.

    Das Versprechen von einem befreiten Leben in Glück ist verführerisch.

    Positive Seiten sollen nicht übersehen werden.

    Nihil hic determino dictans : Conicio, conor, confero, tento, rogo, quero - -

    Leider kann ich nicht mit der alleinerziehenden Mutter aufwarten - -

  • Hallo philoalexandrinus,

    ich hatte von der Mehrdeutigkeit des Begriffs "Humanismus" gesprochen.
    Der wird von den meisten Evangelikalen imho nicht beachtet, sondern es werden pauschal alle Arten von Humanismus und Humanisten verteufelt.

    Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Janusz Korczak werden von evangelikalen Fanatikern gleichgesetzt mit "Humanisten" der Sorte Timothy Leary oder Richard Dawkins.

    Das ist so, als würde man Christen wie Valdez, Wyclif oder Johannes Hus in einen Sack stopfen mit dem Grossinquisitor Torquemada oder den Borgia-Päpsten.

    Dass die Päpste und Inquisitoren sich des Etiketts Christentum bemächtigt haben, ohne Christen zu sein, ist offensichtlich. Das weiss jeder. Sogar ohne Ellen G. White.
    Dass Fanatiker aus einer extrem lebensfeindlichen Ecke sich des Etiketts Humanismus bedient haben und bedienen, ist ebenfalls offensichtlich.
    Das rechtfertigt die Pauschalverdammung des Christentums ebensowenig wie die pauschale Verteufelung der Humanisten.

    Genau hinschauen - die Geister prüfen - darauf kommt es an.


    Das tun die meisten Evangelikalen meiner Erfahrung nach leider nicht.

  • Der wird von den meisten Evangelikalen imho nicht beachtet, sondern es werden pauschal alle Arten von Humanismus und Humanisten verteufelt.

    ich habe ja auf die Auflistung in Wikipedia verwiesen.

    Hauptsache man ist dagegen. Unter den von mir genannten Pamphleten war auch eines über das Teufelswerk der Gruppendynamik Ich nehme an, dass man so irgendetwas vom "Humanismus" der "humanistischen Psychologie" gehört hatte und drauflos polemisierte. Von jenen Humanisten, denen wir die Bibel und die Bibelwissenschaft und die Möglichkeit der Übersetzung der Grundtexte haben, hatten die wahrscheinlich keine Ahnung.


    Un dass - zu dem anderen Begriff - Gruppendynamik überall geschieht und man mit gruppendynamischer Kenntnis Konflikte entschärfen kann, das lag schon wieder jenseits des Horizontes der Pamphletschreiber - und ihrer begeisterten lleser

    Nihil hic determino dictans : Conicio, conor, confero, tento, rogo, quero - -

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  • Ich beziehe mich nochmals auf das, was laustark unter "Humanismus", "humanistische - - " nach 1960 aufkam.

    1961 wurde die "Humanistische Union" in der BRD gegründet. Sie vertrat - auch in ihren Publikationen - unter anderem einen aggressiven antichristlichen Kurs, wenn auch "Trennung von Kirche und Saat" - angesprochen wurde da vor allem, das doch noch christliche Grundwerte erhaltende Strafrecht - ja vom Titel her gut klingen mag.

    Selbstverwirklichung in einem selbstbestimmten Leben: Dies konterte sehr elegant Johann Fichtberger in einer Predigt damals so: "Es geht nicht um meine Selbstverwirklichung, sondern um die Verwirklichung des Gotteswillens in meinem Leben." Man kann klare Ablehnung auch vornehm formulieren.

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    Einmal editiert, zuletzt von HeimoW (27. Februar 2014 um 10:03)

  • Weil hier der Wikipedia-Artikel über Humanismus mehrfach erwähnt wurde, zitiere ich fürs zusammenhängende Lesen des Threads den Anfang des Artikels:

    Zitat

    Humanismus ist eine seit dem 19. Jahrhundert gebräuchliche Bezeichnung für verschiedene, teils gegensätzliche geistige Strömungen in diversen historischen Ausformungen, unter denen der Renaissance-Humanismus begriffsbildend herausragt. Gemeinsam ist ihnen eine optimistische Einschätzung der Fähigkeit der Menschheit, zu einer besseren Existenzform zu finden. Es wird ein Gesellschafts- und insbesondere Bildungsideal entworfen, dessen Verwirklichung jedem die bestmögliche Persönlichkeitsentfaltung ermöglichen soll. Damit verbindet sich Kritik an bestehenden Verhältnissen, die aus humanistischer Sicht diesem Ziel entgegenstehen. Hinsichtlich der konkreten Inhalte bestehen zwischen den einzelnen Humanismuskonzepten große Unterschiede, die sich aus der Verschiedenheit der anthropologischen Grundannahmen ergeben. [...]

    [quelle]Wikipedia: "Humanismus"[/quelle]
    Mir ging es verschiedentlich wie Menschino, dass ich mich gewundert habe, wenn Adventisten manche Begriffe, die ich für positiv oder neutral halte, in sehr negativem Sinne -- und auch in andeen Sinne als üblich -- verwendet hatten.

    In einem Büchlein, das ich gerade lese, wird das Adjektiv "humanistisch" benutzt, um eine bestimmte Form von Religionskritik zu bezeichnen. Der Glaube an Gott hindere die Menschen schlußendlich ihr Leben zu bessern.

    Zitat

    [...] die humanistische Position: Ob Gott gibt oder nicht ist letzlich gleich -- er ist nicht gut für die Menschen, weil er nur zu Krieg und Unterdrückung führt.

    [...]

    Ihre Argumente sind schnell zusammengefasst: Religion führt nur zu Krieg und Unterdrückung. Sie sorgt nicht für ein friedliches Zusammenleben, für Moral und Glück, sondern für das Gegenteil: Wieviel Gott verträgt der Mensch?

    [quelle]Dominique Duby: "Gott in 60 Minuten", S. 48, 52[/quelle]

    "Prüft alles und, was gut ist,
    das behaltet. Aber was böse ist,
    darauf lasst euch nicht ein..."

    1. Thessalonicher 5, 21.22

    "Wähle das Leben, damit du lebst."
    5. Mose 30, 19