Ein Experte bin ich bei weitem nicht, aber ich versuche mal mein Glück.
Erstmal geht es hauptsächlich um das NT.
Bis in die 80/90er war das AT auch ein Thema, aber seit alle Qumran-Funde veröffentlicht wurde und erwiesen ist, dass die Masoreten eine phantastische Leistung vollbracht hatten, gibts da keinen Streit mehr.
Also im West-Europa wurde die Vulgata verwendet und im Osten die griechische Version - heute bekannt als Mehrheitstext.
Bis zum Aufkommen des Buchdrucks waren die Bibeln selten und die meisten Priester kannten sie nicht wirklich. Mit der Druckerpresse wurde die vorhandenen Bibel gedruckt und man stellte fest, dass es gravierende Unterschiede gab. Das war der Startschuss für die Textkritik. Die ersten beiden waren der Kardinal von Toledo, Gonzalo Jiménez de Cisneros und Erasmus von Rotterdam. Die beiden lieferten sich eine Rennen und arbeiteten deswegen nicht allzu sorgfältig.
Erasmus veröffentlichte als Erster 1516 seine Edition (basierend aus 5 Textquellen), obwohl de Cisneros bereits zwei Jahre früher fertig wurde (er hatte keine Erlaubnis vom Papst). Die war aber ziemlich fehlerhaft, so dass er sich wieder an die Arbeit machte und 1519 eine zweite Ausgabe herausgab. Diese Ausgabe nahm Luther als Grundlage für seine Bibel. Erasmus arbeitete noch 17 Jahre weiter und brachte drei weitere Editionen heraus (1522/1527/1536). In die 1527er Ausgabe ließ er dabei auch Erkenntnisse von de Cisneros mit einfließen. Nach seinem Tod übernahm Robert Estienne die Arbeit und gab in fünf Jahren (1546-51) fünf Editionen heraus. Er nutzte auch die Complutensische Polyglotte de Cisneros. 1550 trat Estienne zum Calvinismus über. Théodore de Bèze gab 1565 seine Erste Ausgabe heraus und bis 1611 noch 9 weitere. Die Elzevirs übernahmen die Arbeit und gaben bis 1678 sieben Ausgaben heraus. Die siebte Ausgabe von 1678 ist der Textus Receptus. Es gab weiter auch noch Ausgaben, aber die Unterschiede der späteren Ausgaben waren kaum noch der Rede wert.
Gegner des TR behaupten der TR wäre schlampig erstellt worden - das gilt aber nur für die erste Ausgabe von Ersamus. Danach wurde der Text 26x überarbeitet. Ich denke, dass der TR ein fantastisches Resultat ist.
Bis zum 19. Jahrhundert war aber alles unwichtig, da die RK-Kirche die Vulgata nutze, die Orthodoxe Kirche den Mehrheitstext und die Protestanten den TR. Im 19. Jh. als die Archäologie immer mehr alte Textquellen fand, stellte man Unterschiede fest. Brockhaus, Darby u.a. gaben 1855/71 eine Bibelübersetzung raus, welche bereits die neuesten Funde berücksichtigte. Die ersten die sich seit 250 Jahre wieder 'vollzeit' der Textkritik widmeten waren Tischendorf, Westcott, Hort und später Nestle.
Daraus folgten zwei parallele Editionen (Westcott/Hort und Nestle später Nestle/Aland), welche auch nach dem Tod der Initiatoren weitergingen. Mittlerweile sind Westcott/Hort und Nestle/Aland inhaltsgleich.
Also wir habe heute drei relevante Editionen:
Nestle/Aland 28th
Textus Receptus (1894)
Majority Text (2000)
Der Mehrheitstext richtet sich danach, wie viele Textzeugen existieren und nehmen Lesart die Mehrheit an. Da von den 6200 Quellen über 5000 byzantinischen Ursprungs sind, ist es klar, dass es die Lesart der Orthodoxen Kirche ist.
N/A sieht die über 5000 byzantinischen Textzeugen als eine einzige Quelle an und so nehmen die neuen Funde (v.a. aus Ägypten) einen überproportional hohen Stellenwert ein.
Soviel mal zu den Fakten.
Nun zum Streit:
Alexandria war immer eine Hochburg von Irrlehren (bereits in der Bibel werden die Gnostiker erwähnt). Deswegen sind die ägyptischen Funde nach Meinung der Gegner mit Vorsicht zu genießen.
Die N/A-Vertreter sagen andererseits, dass der TR, der ja nahezu identisch ist mit dem Mehrheitstext, nicht ursprünglich sein kann, da es im 3. bzw. 4. Jahrhundert eine Rezension gab (ich habe noch keinen einzigen Beweis für diese Theorie gesehen).
Jetzt zu den Unterschieden: Die meisten Unterschiede sind m.M.n. lächerlich unwichtig (z.B. Jesus anstatt Jesus Christus). Aber es gibt doch einige, welche es in sich haben. Es gibt eine Berühmte Liste mit 300 Unterschieden. Ich habe mir die Zeit genommen und alle analysiert und kam aus 17 (!) wirklich relevante Unterschiede (3 pro N/A und 14 pro TR) von denen fünf problematisch sind (2 pro N/A, 3 pro TR).
Also die Unterschiede, auch wenn sie mehrere tausend Worte betreffen, sind nicht wirklich gravierend. Deswegen sollte man auch nicht auf die Barrikaden gehen. Ich nutze für meine wiss. Arbeit natürlich alle Quellen. Dass ich die NeueLuther-Bibel als Erstbibel nutze, hat nichts damit zu tun, dass sie den TR nutzt, sondern, dass sie Form- und Worttreue relativ gut mit der Leserlichkeit vereinigt hat.
Also es ist nicht entscheidend, welcher der Drei verwendet wird, viel wichtiger ist es, wie man es dann übersetzt.
PS Die meisten beachten nicht, die vollständige N/A-Ausgabe. Der im Internet erhältliche Text, ist nur der Primärtext, aber es gibt auch einen Apparat, welcher fast 1/3 des Inhalts ausmacht und wo abweichende Lesarten aufgeführt werden. Irgendwann mal im nächsten Jahrzehnt soll dann endlich eine Edition mit allen Lesarten herauskommen.