Autismus - der Geist in der Zelle

  • Ich beschäftige mich immer mal wieder mit diesem Thema und merke oft, dass ich diese Menschen auf irgendeine Art sehr gut verstehe.

    Obgleich Zahlen und feste Muster nicht unbedingt meine Sache sind, so kenne ich es noch aus Kindertagen (und manchmal heute noch) dass man sich total in einem Bild oder in Gedanken verliert.

    "Er ist ein Träumer", hieß es dann, wenn ich mal wieder minutenlang auf ein Motiv oder Plakat starrte, um es mir "ganz genau" anzusehen :rolleyes:

    Nun sind Autisten nicht einfach nur Träumer, aber ich finde dieses Thema sehr faszinierend.

    Was wisst ihr so darüber? Kennt ihr vielleicht sogar Menschen mit Autismus und wie finden sie sich in der Gesellschaft zurecht?

    Erstmal soviel. Das Thema kann ja noch spezifischer werden.

    Lg

  • Ich habe noch niemanden persönlich kennen gelernt, der mir als Autist vorgestellt wurde. Allerdings hat ein Freund von mir eine Schwester, die auf mich teilweise einen autistischen Eindruck macht. Aber ich weiß nicht, welche psychiatrische Erkrankung sie tatsächlich hat. Als ich sie die ersten Male sah, ging ich mit ihrem Bruder -- und ihr -- zusammen aus, vielleicht ins Kino, ich erinnere mich nicht mehr an den Anlaß. Seine Schwester war dabei und verhielt sich sehr scheu und sonderlich. Mein Freund und ich gingen die Straße entlang, seine Schwester verhielt sich wie ein Trabant, wie ein Mond, der um uns kreiste, hielt immer einen gewissen Abstand von einigen Metern und nahm praktisch an keinem Gespräch teil; sie war irgendwie an uns gebunden, aber abgeschottet oder verschlossen, immer mit diesem Abstand. Ich weiß nur, dass sie heute in einer WG wohnt und regelmäßig irgendwelche Tabletten nimmt. Man kann sich mit ihr auch bei Treffen unterhalten, aber es passiert, dass sie am gleichen Abend, wenn ich sie freundlich und zugewandt verabschiede, eigentlich vor allem, weil sie mir etwas leid tut und ich versuche, Rücksicht zu nehmen, es passiert, dass sie dies dann völlig ignoriert, nichts erwidert, an mir vorbeisieht, keinerlei Blickkontakt mehr aufnimmt und einfach weggeht. Ob das Autismus im engeren Sinne ist oder nur eine Begleiterscheinung einer anderen psychiatrischen Erkrankung, weiß ich nicht, auch weil ich sie nur von wenigen nicht sehr tief gehenden und manchmal auch eher kurzen Treffen in den letzten Jahrzehnten kenne.

    Unabhängig von diesem Beispiel einer psychisch Kranken oder doch wenigstens einer psychisch abweichenden Person; weiß ich, dass es offenbar ein ziemliches Spektrum an Autisten gibt, soll heißen, dass es diverse Spielarten oder Schweregrade gibt. Vermutlich muss man dabei auch in Betracht ziehen, dass der Begriff Autismus ein Konstrukt ist, also ein Versuch, diverse psychische Abweichungen oder Sonderbarkeiten unter einem Etikett zusammenzufassen.

    Die Thematik interessiert mich, wie überhaupt psychologische, sehr, allerdings habe ich mich seit einiger Zeit schon nicht mehr mit Autismus auseinandergesetzt. Vor einigen Jahren habe ich unter anderem ein autobiografisch angehauchtes Buch eines Autisten gelesen. Dieser Autist gab auch einmal in einer Talkshow Auskunft über sein Leben und sein Buch; ein gutes Beispiel dafür, dass es diverse Abstufungen gibt und nicht alle Autisten so extrem abgekapselt, kommunikativ beschränkt und so extrem zurückhaltend sind, wie manche Darstellungen vermuten lassen.

    "Prüft alles und, was gut ist,
    das behaltet. Aber was böse ist,
    darauf lasst euch nicht ein..."

    1. Thessalonicher 5, 21.22

    "Wähle das Leben, damit du lebst."
    5. Mose 30, 19

  • Ich habe einen Cousin der Autist. Was wirklich in ihm vorgeht, weiss ich nicht. Ich weiss er hat einfach riesig Freude an mir, vor allem, wenn ich Musik mache. Wirklich selbstständig leben kann er nicht, aber er arbeitet jetzt in einer Gärtnerei für Behindert. Wie gesagt, Autismus ist sehr schwer greifbar.

    Liebe Grüsse
    DonDomi

  • Danke sehr, ihr beiden!

    Es stimmt, das Spektrum ist sehr weit gefasst.

    Was mich vor allem interessiert, ist:

    "wo" genau ist die Störung in der Entwicklung? Also was drosselt ein Wesen so sehr auf sich selbst zurück, dass die Relationen zur Umwelt nicht aufgebaut werden können? Denn ich finde das verwunderlich.
    Wenn ein Mensch ein Trauma erlebt, dann können auch psychotische oder autistische Züge im Wesen und Verhalten des Menschen entstehen; aber dort hat man sozusagen einen "Beginn", einen Anstoß.

    Ich denke vor allem daran, dass wir ja naturgemäß Beziehungswesen sind. Unsere Persönlichkeit bildet sich an der Relation zu anderen aus.

    Findet das beim Autisten auch statt oder nicht?

    Eine weitere Frage, die ich mir stelle, ist:

    man wird zunächst ohne Erfahrung, als "Natur-Wesen" geboren (bevor eine Bildung irgendeiner Art Einfluss nimmt);

    Woher die Affinität vieler Autisten für klare, wiederkehrende Muster, Formen, Größen, Ordnungen usw.? "Woher" haben sie diese Muster?

    Wenn ein Schuljunge seine Leidenschaft für klare Gesetzmäßigkeiten der Mathematik entdeckt, dann ist das ja vollkommen ok;
    aber wieso ordnet ein autistisches Kleinkind (wie auf einem Foto mal gesehen) all seine Spielzeuge nach Größen und Farben, so präzise und abgestimmt, dass es einem eigentlich gruselig wird.. ?

    Er muss ja irgendeinen Grad von Erkenntnis und von Anschauung haben (wenn er sein Spielzeug sieht) der eigentlich bei einem Kind dieses Alters nicht vorhanden ist.

    Doch andererseits ist eine Kontaktaufnahme mit der lächelnden Mutter nicht machbar.

    Das ist doch merkwürdig..

  • Was wisst ihr so darüber?

    Der aktuelle Erkenntnisstand aus der neurobiologischen Forschung beschreibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass bei Autisten von Geburt an strukturelle und funktionale Störungen des zentralen Nervensystems vorliegen, die die Folge von genetischen Prozessen darstellen.

    Neurobiologische Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass ein komplexes Zusammenspiel mehrerer, verschiedener Gene für die Entstehung von Autismus verantwortlich ist. Die genaue Anzahl der am Autismus beteiligten Gene lässt sich derzeit nicht verlässlich angeben. Eine Mutation des Gens „Homeobox A1“ (HOXA 1) scheint mitverantwortlich für die Entstehung von Autismus. Dieses Gen spielt eine tragende Rolle bei der Entstehung des zentralen Nervensystems. Anscheinend sind die Weichen bei Autismus schon in den allerersten Schwangerschaftswochen gestellt, wenn sich das Gehirn zu entwickeln beginnt. Neben den genetischen Einflüssen haben dabei wahrscheinlich auch biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt eine Bedeutung.

    Und dennoch gibt die Entstehung von Autismus Rätsel auf. Immerhin bringen mehr und mehr medizinische Erkenntnisse etwas Licht ins Dunkel: So zeigten Untersuchungen mit modernen bildgebenden Verfahren, dass bei Menschen mit Autismus-Störungen ein anderes Hirnareal aktiv ist, wenn sie Gesichter betrachten, als bei Menschen ohne diese Störungen. Gesichter aktivieren bei autistischen Menschen eine Hirnareal, das andere Menschen beim Betrachten von Objekten brauchen.

    Das Wort Autismus leitet sich vom griechischen „auto / autos“ ab, das bedeutet „selbst“ - Autismus bedeutet also im Grunde „auf sich bezogen sein“. Menschen mit Autismus nehmen also sich selbst und die Welt anders wahr. Man könnte sagen, dass zwischen Autismus-Betroffenen und Nicht-Betroffenen eine Art „gegenseitige Wahrnehmung von Anderssein und einander Nichtverstehen“ besteht. Wir verstehen autistische Menschen in vielem nicht, so wie sie uns nicht verstehen. Die verschiedenen Formen und Ausprägungen von Autismus fasst die Medizin heute im „Diagnosen-Jargon“ als „spektrale Autismus Störung“ zusammen.

    Eine umstrittene These stellt der englische Psychologe Simon Baron-Cohen auf: Autisten hätten möglicherweise ein extrem männliches Gehirn. Das wäre seiner Meinung nach auch der Grund, warum mehr Jungen als Mädchen vom Autismus betroffen sind. In einer kleinen Studie konnte Baron-Cohen zeigen, dass sich Kinder umso «männlicher» verhalten, je mehr sie während der Schwangerschaft dem männlichen Geschlechtshormon Testosteron ausgesetzt waren. 1944 machte der österreichische Kinderarzt Hans Asperger Beobachtungen, die in diese Richtung gehen. Er war überzeugt, dass Menschen mit Autismus ausgeprägt „männlich denken.“ Asperger beschrieb 1944 das nach ihm benannte Syndrom, eine mildere Form von Autismus. Ob die Testosteron-Konzentration auch bei der Entwicklung von Autismus eine Rolle spielt, will Baron-Cohen nun in einem Forschungsprojekt herausfinden, in dem er Tausende Fruchtwasserproben analysieren wird.

    Gewiss sind die Erkenntnisse von Simon Baron-Cohen von Interesse, um der Entstehung von Autismus auf die Spur zu kommen. Dass viel mehr Knaben autistische Störungen entwickeln, erklären sie indessen noch nicht. Mädchen sind dem Testosteron im Mutterbauch in gleicher Weise ausgesetzt wie Jungen. Wohl sind bei allen Formen von autistischen Störungen mehr Buben als Mädchen betroffen, doch wahrscheinlich „verpasst“ die Medizin einen Teil der Mädchen, weil die heute gebräuchlichen Diagnosemethoden für Mädchen und Frauen nicht gerade ideal sind.

    Mädchen fallen mit ihren Vorlieben weniger auf als die Buben, die Fahrpläne auswendig lernen oder sämtliche Automarken kennen. In den letzten Jahren wurde Autismus vermehrt bei Mädchen im Teenager-Alter und bei jungen Frauen diagnostiziert. Autismus wurde bei ihnen im Kindesalter nicht erkannt. Dies liegt daran, dass viele eine sehr enge Vorstellung von Autismus hätten – Nicht nur Laien, sondern auch Ärzte und andere Fachpersonen. Sie denken, autistisch zu sein, bedeute, dass jemand total verschlossen ist, sich nur für technische Dinge und Objekte interessiert, und dass eine autistische Person hyperaktiv und aggressiv ist – Merkmale, wie sie autistische Buben an den Tag legen. Wenn ein Mädchen kommt, das zumindest oberflächlich kontaktfreudig ist und Interessen zeigt, die für Mädchen typisch sind, sagen viele: „Das ist kein Autismus“.

    Ich finde es sehr schade, dass unsere Gesellschaft nur das „ungewöhnliche Verhalten und Anderssein“ bei Autisten sieht – Damit werden viele Vorurteile genährt... Etwa die Meinung, dass "Menschen mit einer autistischen Störung keinen sozialen Kontakt benötigen, da sie sich in ihrer eigenen Welt vollkommen wohl fühlen.“

  • Zitat

    Ich finde es sehr schade, dass unsere Gesellschaft nur das
    „ungewöhnliche Verhalten und Anderssein“ bei Autisten sieht – Damit
    werden viele Vorurteile genährt... Etwa die Meinung, dass "Menschen mit
    einer autistischen Störung keinen sozialen Kontakt benötigen, da sie
    sich in ihrer eigenen Welt vollkommen wohl fühlen.“

    Das wäre mir neu. Ich habe noch nie gehört, dass Leute meinen, Autisten seien "zufrieden" in ihrer eigenen Welt und bräuchten daher keine Sozialkontakte...

    Im Gegenteil: man hört von Eltern, vor allem von Müttern, die sehr darunter leiden, dass sie zu ihren Kind keine Beziehung aufbauen können bzw. dass es so unglaublich schwierig ist und ein langer, mühsamer Weg, zum Kind durchzudringen.

    Im Allgemeinen möchte Forschung und Gesellschaft ja nicht, dass ein Autist so bleibt, wie er ist, weil es als problematisch angesehen wird. Menschen sind soziale Wesen. Wenn ein Mensch das nicht ist, dann liegt ein Fehler vor. Ich denke, darauf können wir uns einigen, oder?

    Natürlich hast du Recht, dass häufig nur dieses Negativ gesehen wird, wenn man "Autismus" hört.

    Man wird ihnen diese "eigene Welt" übrigens niemals nehmen können, und sollte man auch nicht!

    Ich sah mal eine Sendung, da war ein Autist zu Gast, der sogar verheiratet ist und Kinder hat. Er war zwar vergleichsweise super in das "normale" soziale Leben integriert (samt sehr gutem Job, aufgrund seines technischen Genies) aber als der Moderator mit ihm und seiner Frau über "Liebe, Gefühle, Empfindungen usw." sprach, merkte man schon sehr deutlich an seinen Antworten, dass er anders war.

    Das war übrigens keine negative Andersartigkeit! Es hatte etwas sehr interessantes. Das Publikum lachte an manchen Stellen, weil seine Antworten teilweise echt lustig waren; er selbst hat sie natürlich total ernst gemeint.

    Das Interessante war die Perspektive! Wir haben so romantische, idealisierte Vorstellungen von Liebe, Ehe, Glück usw., und seine Perspektive auf diese Themen war echt faszinierend.

    Das "Problem" oder besser: "die Mühe" stellte sich auch nicht für ihn, sondern höchstens für die Frau. Sie musste lernen, mit diesem Mann umzugehen. Und ihr war auch bei der Hochzeit klar, dass sie von ihm niemals solche "Liebesbeweise" bekommen würde, wie man es gemeinhin gewohnt ist und sich vorstellt. Es war eine vollkommen andere Welt, aber sicher keine langweilige!

    Auch solche Leute kann und muss man lieben! Und ich hatte den Eindruck, diese Frau liebt ihren Mann ganz enorm.

  • Ich habe noch nie gehört, dass Leute meinen, Autisten seien "zufrieden" in ihrer eigenen Welt und bräuchten daher keine Sozialkontakte...

    Nun, die Meinung das Autisten keinerlei soziale Kontakte benötigen würden, rührt daher das Autisten eine möglichst gleichbleibende Umgebung und einen geregelten Tagesablauf benötigen. Veränderungen sorgen für Unruhe und fordern ein hohes Maß an Konzentration für den Betroffenen. Es war uns ist eine weit verbreitete, aber falsche Annahme, das autistische Menschen von sich selbst aus, jeden sozialen Kontakt ablehnen. Natürlich gibt es auch Autisten, die wirklich jeglichen sozialen Kontakt zu anderen Menschen verweigern, aber das zu pauschalieren und zu sagen: „Das ist bei jedem Betroffenen so“ halte ich für Schwachsinn.

    Lassen wir doch einfach mal eine Autistin selbst zu Wort kommen:

    Fände sich eines schönen Tages Jemand, der mir sagte, dass ich ihm gefalle, dass er oder sie mich als Freundin haben will, so wäre das „Siegesfortschrittkraftgewinn“ für mich. Wenn es anderen gelingt an mir ohne „Uferangst“, ohne Furcht an mir anzuecken, mit mir unter wirren Bedingungen eine Freundschaft zu haben und mir durch Freude an der „Wirklichkeitsgestaltung“ in Fairness ein warmes „Hefegefühl“ zu vermitteln, ohne dass ich nur die Ergebnisse ihrer „Wirklichkeitsgestaltung“ akzeptieren muss, so kann das nur eine Freundschaft sein. Offenes Diskutieren richtet weniger Schaden an als bevormundendes Heimlichtun. Wer mir ein Freund sein will, soll ehrlich zu mir, sonst geht das Hefegefühl verlustigt.


    Die Meinung das Autisten keinerlei soziale Kontakte benötigen würden, gehört übrigens zu den „10 größten Irrtümern über Autismus“, wie es ein autistisches Fachmagazin feststellte:

    01)
    FALSCH: Autismus ist eine Krankheit.
    RICHTIG: Autismus ist eine Art zu sein, eine Wesensart, ein Naturell. Experten sprechen von Menschen im „autistischen Spektrum“.

    02)
    FALSCH: Autismus ist psychisch bedingt.
    RICHTIG: Autisten haben ein alternatives Gehirndesign, eine ungewöhnliche neurologische Verdrahtung, eine andere Art der Wahrnehmungsverarbeitung. Es gibt viele sehr intelligente Autisten. Auch nicht-sprechende Autisten sind häufig intelligent.

    03)
    FALSCH: Alle Autisten sind gleich.
    RICHTIG: Autistische Menschen sind genauso unterschiedlich und individuell wie Nichtautisten.

    04)
    FALSCH: Autismus ist die Folge von emotionaler Vernachlässigung, emotionalem Stress, Missbrauch oder Traumata.
    RICHTIG: Immer noch hält sich die falsche These, die in den 1950er Jahren entstand, als Müttern standardmäßig die Schuld daran zugeschoben wurde, wenn ihre Kinder nicht so waren, wie die Gesellschaft das wünschte. Heute weiß man: Ein nicht-autistisches Kind kann man so schlecht erziehen, wie man will, es wird nie autistisch werden.

    05)
    FALSCH: Autismus kann nach der Kindheit verschwinden.
    RICHTIG: Aus autistischen Kindern werden autistische Erwachsene. Obwohl es hin und wieder als Wunderheilung verkauft wird, fangen viele Austiten irgendwann an zu sprechen – ganz ohne Therapie. Das heißt nicht unbedingt, dass sie irgendwann Durchschnittsmenschen werden.

    06)
    FALSCH: Man erkennt Autisten an ihrem Äußeren.
    RICHTIG: Autistische Menschen sehen aus wie andere Menschen auch.

    07)
    FALSCH: Alle Autisten sind Genies.
    RICHTIG: Dieser falsche Eindruck entsteht, weil autistische Genies besonders eindrucksvoll sind. Wie bei Nichtautisten gibt es solche und solche: Einige Autisten lernen sehr schnell, andere brauchen länger. Jeder hat seine individuellen Begabungen und Schwächen.

    08)
    FALSCH: Autisten benötigen oder wollen keine sozialen Kontakte und haben keine Gefühle.
    RICHTIG: Oft scheitert der soziale Kontakt daran, dass Autisten und Nichtautisten keine gemeinsame Sprache finden. Viele autistische Menschen wollen gern Kontakt zu anderen, wissen aber nicht, was eine sozial angemessene Art der Kontaktaufnahme sein könnte. Andere autistische Menschen wollen keinen Kontakt zu anderen Menschen. Wie alle Menschen wollen auch Autisten selbst auswählen, mit wem sie wann wie ihre Zeit verbringen, und wann sie lieber allein sind. Autistische Menschen haben Gefühle für andere Menschen, auch wenn man ihnen diese nicht unbedingt anmerkt. Viele von ihnen führen zufriedene Freundschaften, Partnerschaften und gründen Familien. In einem Radiointerview erzählte ein autistischer Vater : “Meine Frau muss mich darauf hinweisen, wie meine Kinder fühlen. Ich erkenne nicht anhand ihrer Mimik, wenn sie Angst vor etwas haben.”

    09)
    FALSCH: Autisten können keine normale Schule besuchen.
    RICHTIG: Die meisten autistischen Kinder und Jugendlichen besuchen Regelschulen und werden oft nicht als solche etikettiert – können aber vielfach nicht ihr Potential entfalten, weil sie anders lernen und eine angepasste Lernumgebung bräuchten.

    10)
    FALSCH: Autismus bedeutet, kein selbständiges Leben führen zu können.
    RICHTIG: Manche Menschen brauchen viel Unterstützung von anderen, andere leben gänzlich ohne spezielle Unterstützung.

    • Offizieller Beitrag

    Ein Erfahrungsbericht:

    Heute (09.01.2015) hatten wir den Sohn eines Geschäftspartners bei uns in der Firma. Der Sohn ist autistisch und wird bei uns in der Firma kommende Woche ein Berufs-Praktikum machen. Seitens der Stadtverwaltung und seitens des Bundesministeriums werden eine Unterstützungskraft (20 Stunden) sowie die Begleitung angeboten. Es gibt hier umfangreiche Förderprogramme, das finde ich sehr gut.

    Ich bin gespannt, wie er sich bei uns in der Firma macht. Für Autisten ist es wichtig, dass sie genaue Strukturen haben, einen Stundenplan sowie feste Bezugspersonen. Im Kennenlerngespräch heute habe ich auch festgestellt, dass Antworten einfach eine Zeit brauchen. Stellt man eine Frage, dann muss man geduldig auf eine Antwort warten. Und die Antwort kommt, genau die Antwort auf die Frage. Für mich ist das eine total neue Erfahrung.

    Der Stundenplan bzw. die Tätigkeiten im Büro bei uns umfassen das Aufsetzen von mehreren Android Geräten (Grundeinstellungen machen), Aktenvernichtung, Ausdruck von Formularen für die Pflege- und Betreuungsdokumentation (meine Firma macht Hauskrankenpflege in Wien), Scan und Ablage von Dokumenten.


    Ich bin gespannt wie er sich macht...

  • tricky: Ich bin kein Spezialist, aber aus dem, was ich jüngst in einigen TV-Beiträgen und Texten des Asperger-Autisten Dr. Peter Schmidt gehört und gelesen habe, kann man zumindest diesen praktischen Rat ableiten:

    Asperger-Autisten haben Probleme mit der eigenen Körperwahrnehmung und der anderer. Das bedeutet anscheinend, dass sie zu ihrem eigenen Körper immer wieder bewußt reflektierend einen Bezug herstellen müssen, wo andere Menschen diesen Selbstbezug intuitiv und und meist ohne bewußte Bemühung unterhalten. Von praktischer Bedeutung ist, dass Asperger-Autisten die Mimik anderer nicht automatisch verstehen. Peter Schmidt sagt, er erkenne nur extreme Gefühlsausdrücke, also etwa wenn jemand heftig weine. In einem Film habe ich die Tage ein Kind bei einem Test gesehen, das zu einem Foto von einem offensichtlich lachenden Gesicht angab, das Bild zeige einen Mann, der traurig sei. Auch der Hinweis auf die Lachfalten des Mannes änderte nicht das Urteil des Probanten; der Junge wiederholte, der Mann sei traurig.

    Peter Schmidt berichtet in einen Artikel anläßlich seines jüngsten Buches über seine Erfahrungen im Berufsleben, dass man ihm früher gesagt habe: "Damit haben sie uns einen Bärendienst erwiesen." Er habe das lange Zeit immer als Lob aufgefaßt und als Aufforderung, bitte, so weiterzumachen. Schmidt erklärt, jemand, der nicht Asperger habe, würde diesem Irrtum kaum unterleigen, weil er an der Mimik bei dieser Aussage über den Bärendienst erkennen würde, dass sein Gegenüber nicht erfreut sei. Er hingegen als ein Asperger-Autist erkenne dies nicht. Ironie, zweideutige oder zwiespältige Aussagen werden Asperger-Autisten sehr wahrscheinlich mißverstehen. Damit ein Asperger-Autist Dich versteht, sollten Deine Formulierungen also aus den Wörtern allein -- ohne Mimik und Tonfall -- unzweideutig verständlich sein. Peter Schmidt schreibt, er bevorzuge klare Ansagen und danach weitgehende Freiheit, wie er das Problem allein löse. Außerdem bevorzugt er alleine zu arbeiten und einen eigenen Raum zu besitzen. Weiter brauche er seine eigene Ordnung und die Toleranz seiner Kollegen gegenüber seinen Eigenheiten.

    [quelle]Die Website von Dr. Peter Schmidt mit diversen Links, die allerdings teilweise, wo sie auf ältere Medienbeiträge verwiese, nur noch ins Leere führen[/quelle]

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    das behaltet. Aber was böse ist,
    darauf lasst euch nicht ein..."

    1. Thessalonicher 5, 21.22

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    5. Mose 30, 19

    2 Mal editiert, zuletzt von Daniels (9. Januar 2015 um 23:27)

    • Offizieller Beitrag

    Daniels

    Ich habe mich mit Autismus noch nicht so beschäftigt, bis auf die Standard"lektüre" Rainman bzw. den Film mit Dustin Hofman.

    Ich weiß noch nicht genau welche Art von Autismus es ist, die unser Praktikant hat, wenn ich mich recht entsinne dann gibt es bei dieser Krankheit die verschiedensten Ausprägungen.

    Es dürfte sich in meinem Fall dabei eher um den frühkindlichen Autismus handeln, da ich weiß, dass der erste Hinweis bei unserem Praktikaten war, dass er als Kleinkind einfach nicht angefangen hat zu sprechen. Lt. Wikipedia heißt diese Form von Autismus: Kanner-Syndrom.

    Seele1986

    ich werde weiter berichten.

    • Offizieller Beitrag

    So, heute war also der erste Tag mit unserem Praktikanten. Ich nenne ihn J.

    J war pünktlich um 8:00 Uhr mit seiner Unterstützungslehrerin und seinem Vater, der ihn am Arbeitsweg begleitet, da. Wir haben uns gleich am Computer angemeldet und haben begonnen einen Stundenplan zu schreiben. Bei Bedarf kann ich diesen Stundenplan bzw. die Dokumentation der Arbeit auch nach Rücksprache per PN übermitteln. Wichtig ist für J, dass er einen geregelten Ablauf hat. Was passiert wann und wie lange dauert das.

    J hat heute kein Wort gesprochen. Wenn wir ihn etwas gefragt haben, dann hat er uns zuerst direkt angesehen und dann mittels Kopfnicken seine Zustimmung zu einer der von uns vorgeschlagenen Optionen ausgedrückt. Ich bin mir unsicher, wie ich seinen Gesichtsausdruck deuten soll, aber er hat eigentlich immer einen fröhlichen Eindruck auf mich gemacht...zumindest hat er gelächelt, wenn ich ihn angesehen habe.

    Insgesamt ist es natürlich schwierig, wenn man jemanden vor sich hat, dem man die Informationen über seinen Zustand und seine Launen "aus der Nase ziehen" muss. Deshalb ist man immer bemüht zu fragen und sein stummes Gegenüber mit Entscheidungen zu konfrontieren. "Willst du ein Glas Wasser zu trinken?" oder "Ist dir kalt?" (das habe ich gefragt, weil er bei den Aufgaben manchmal zwischendurch ein wenig gezittert hat). Überfordert man ihn dann mit den vielen Optionen? Schwer zu sagen.

    Die Stützlehrerin war aus meiner Sicht ein wenig zu ungeduldig. Nicht, dass sie ihn das hätte spüren lassen, überhaupt nicht, aber ich hätte bei der ein oder anderen Frage an J doch noch ein wenig geduldiger zugewartet bis von ihm eine Antwort kommt, bevor man weitere Optionen anbietet. Ich bin mir aber unsicher was J mehr fordert bzw. möglicherweise sogar stresst, die Auswahl der Optionen, die man ihm anbietet, oder das bestimmte Zuwarten auf eine Reaktion von ihm. Ich möchte ihn keineswegs in Bedrängnis bringen, es würde mich aber interessieren was für ihn leichter ist: Auswahl oder Artikulation? Gefühlsmäßig würde ich sagen, dass er die größeren Probleme dabei hat etwas verbal auszudrücken. Wobei die Antwort scheint da zu sein, nur wird sie nicht Wort.


    Erledigt haben wir heute: Stundenplan für heute, Stundenplan für die kommenden Tage, Grundaufsetzen von 20 Smartphones (Samsung Xcover II) in jeweils 75!!!! kleinen und größeren Arbeitsschritten, SCAN von Abrechnungsbögen auf einem Systemkopierer mit Anleitung.


    Ich bin positiv überrascht. Nach dem Kennenlerntermin dachte ich mir, dass es länger brauchen wird bis wir "in Serie" gehen können, dem war aber nicht so. Ein paar mal vorzeigen und erklären worauf es ankommt und die Routine geht dahin.

  • Danke tricky:

    ich würde auf den "ersten Blick" auch vermuten, dass ihm die Artikulation schwerer fällt.

    Mit "Entscheidungen" haben Autisten eigentlich wenig Probleme: sie machen das, was sie wollen; das ist eine Entscheidung.

    Aber jemandem zu erklären, was die Beweggründe sind oder seine Positionen im sozialen Miteinander darzustellen, das ist wahrscheinlich schwer für ihn.

    Denk ich mal...

    • Offizieller Beitrag
    Zitat

    Ein Autist in der Arbeitswelt
    Menschen mit Asperger-Autismus haben häufig besondere Talente. Trotzdem sind mehr als vierzig Prozent von ihnen arbeitslos, weil sie ständig anecken. Doch langsam passen sich erste Unternehmen an. Auch ein Betroffener wagt sich vor – mit einem Buch zum Thema.

    http://www.faz.net/aktuell/wissen…t-13345066.html

    • Offizieller Beitrag

    So, ein kurzes Update.

    J hat es nach der Auskunft seines Vaters am 2. Tag sehr gut gefallen. Ich habe seinen Vater auch gefragt, wie ich das Lächeln von J deuten soll, ob das ein normaler/immer vorhandener Gesichtsausdruck ist, den er hat, oder ob es ihn wirklich freut bei der Arbeit und auch wenn er mit mir "spricht". Sein Vater hat dann gemeint, dass dieser Gesichtsausdruck sehr wohl positiv zu deuten sei. Wenn er lächelt, dann bedeutet das, dass er Freude hat bei seiner Tätigkeit. Das hat mich dann wiederum gefreut, weil J offensichtlich Spaß hat bei seiner Tätigkeit.
    Ich habe auch erfragt, dass es sich doch um einen Asperger-Autismus handelt. Jedoch ist bei dem Krankheitsbild von J auch eine Form des Mutismus dabei. Ich wußte gar nicht was Mutismus ist, hier der Link dazu:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Mutismus
    Laut dem Vater von J hat es Phasen im Aufwachsen von J gegeben, in denen er durchaus mehr gesprochen hat als jetzt. Anscheinend hat sich das mit der Pubertät wieder verschlechtert. Auf meine Frage, was J zu Hause gerne macht, hat mir sein Vater erzählt, dass er gerne Landkarten liest und dass er sich sicher ist, dass J einer derjenigen ist, die sich in unserer Stadt am besten auskennt.

    Die Tätigkeiten waren gestern und vorgestern weiter die Smartphones aufsetzen, was mittlerweile schon sehr schnell geht. Wir haben auch Ordner für die Aktenvernichtung aussortiert und zum Papierschnitzler gebracht. Alles kein Problem. Schwierigkeiten gibt es immer nur mit den kleineren Tätigkeiten mit denen man sich bei den Bürotätigkeiten auch ärgern. Das Herausnehmen von Heftklammern beispielsweise, oder wenn eine Smartphoneverpackung nicht gleich aufgeht, sondern man mit den Fingernägeln nachhelfen muss. Diese Tätigkeiten haben J Probleme bereitet, da er motorisch nicht so geschickt ist und dann manchmal an so einer Kleinigkeit verzweifelt.
    Das Binden von Arbeitsbögen mit einem Faden durch die Ordnerlochung hat arge Probleme bereitet. Das Führen eines Fadens von vorne nach hinten oder das Binden einer Masche/Knoten hat J sehr gestresst.

    Morgen, am letzten Tag ist die Stützlehrerin nicht dabei.

  • Auf meine Frage, was J zu Hause gerne macht, hat mir sein Vater erzählt, dass er gerne Landkarten liest und dass er sich sicher ist, dass J einer derjenigen ist, die sich in unserer Stadt am besten auskennt.


    Das paßt auffällig zu einer großen Vorliebe des in den Medien mehrfach aufgetretenen Asperger-Autisten Dr. Peter Schmidt.

    Er berichtet selber über seine Vorliebe für Straßenpläne:

    [quelle]Dr. Peter Schmidt: "Straßenwelten", eine Unterseite seiner persönlichen Website: http://www.dr-peter-schmidt.de/.[/quelle]
    Auch in Fernsehbeiträgen erklärte Schmidt, er stelle sich sein Leben und Aufgaben gerne als Wege vor, die es zu bewältigen gelte. Ich denke, dass diese Vorliebe unter anderem damit zu tun hat, dass Straßenpläne die Realität vereinfachen und eindeutig strukturieren. Wie Du auch schon angesprochen hast, legen Autisten, nach allem, was ich höre, gesteigerten Wert auf klare Strukturen und vorhersehbare Abläufe. Schmidt zum Beispiel plant deshalb für seine zahlreichen Reisen immer detailliert und sieht diverse Planvarianten vor, dass heißt, er versucht sogar, Abweichungen, die die meisten anderen Menschen einfach auf sich zu kommen lassen, planend vorherzusehen und dadurch Überraschungen und Ungewissheiten zu verhindern. Überraschungen und Planabweichungen stressen und frustrieren ihn nicht unerheblich, er geht etwas ungewöhnlich mit solchen Problemen um.

    "Prüft alles und, was gut ist,
    das behaltet. Aber was böse ist,
    darauf lasst euch nicht ein..."

    1. Thessalonicher 5, 21.22

    "Wähle das Leben, damit du lebst."
    5. Mose 30, 19

    5 Mal editiert, zuletzt von Daniels (16. Januar 2015 um 12:15)

    • Offizieller Beitrag

    Zum Abschluß des Praktikums noch ein Endbericht.

    Am letzten Tag war J alleine bei mir, da die Stützlehrerin nur für 20 Stunden bezahlt wird. Js Vater hat gefragt, ob er am Freitag auch kommen könne, ich habe ihm zugesagt. Wir haben weiter nach dem Stundenplan und den bereits gewohnten Tätigkeiten gearbeitet. Zusätzlich wollte ich J auch einen kompletten Arbeitsschritt zeigen. Vom Entfernen der alten Ordner für die Aktenvernichtung aus dem Archiv bis zum entsorgen. Dafür war es notwendig, dass ich J zeige wie der Aktenvernichter (so ein recht großes Teil, das wirklich vernichtet und nicht nur Streifen schneidet) funktioniert. Ich hatte ein wenig Sorge, dass das doch laute Gerät ihm Schwierigkeiten bereitet, er sich möglicherweise fürchtet. Das Gegenteil war der Fall. Er war sofort begeistert von der Tätigkeit und hat das Papier in richtiger Menge (bis zu 23 Blatt wären gleichzeitig möglich) vernichtet. Verwirrend war für J, dass der Aktenvernichter aufgrund von Papierstaub und einer verdreckten Sensoreinheit unterschiedlich reagierte. Wenn der Sensor bedeckt ist, dann läuft das Schnittgeräusch weiter, da der Aktenvernichter nicht erkennt, ob Papier eingelegt ist, oder nicht. J neigt dazu einen Arbeitsschritt immer genau nach Vorschrift zu machen, das wäre: Papier nehmen, hineinlegen, warten bis der Aktenvernichter fertig ist und aufhört zu häckseln, dann den nächsten Papierpack reinlegen... . Das war dann halt nicht so bzw. war der Auffangbehälter unten drinnen schon recht voll. Ich habe ihn aber darauf hingewiesen, dass wenn irgendwas auftritt, er einfach zu mir in mein Büro kommen soll. Und das hat er getan. Selbstständig. Das hat mich besonders gefreut, da es in dieser Woche manchmal auch vorgekommen ist, dass wenn J mit einem Arbeistsschritt fertig war, er einfach in eine Warteposition gewechselt ist. Er hat dann einfach still stehend oder sitzend NICHTS mehr gemacht und gewartet bis neue Anweisungen kommen. Das alles war am Freitag überhaupt kein Problem. Er ist selbstständig auf die Toilette gegangen (das haben wir Anfangs durch Fragen und Aufforderung erledigt) und hat sich eben auch "gemeldet", wenn er fertig war. Er ist dann einfach durchs ganze Büro bis zu meinem Zimmer gelaufen und ich bin mit ihm zurück zum Aktenvernichter, um festzustellen, was nicht stimmt bzw. warum J nicht weiter kann.
    Als der Behälter fertig war bin ich dann mit J gemeinsam in unserem großen Bürokomplex zum Müllraum gegangen und habe dort mit ihm gemeinsam den Sack mit Papiermüll entsorgt. Er ist mir dabei aufmerksam gefolgt und hat alles mitgemacht. Ich weiß nicht, ob es ihm was gibt, aber ich fand es angebracht, dass er einen kompletten Arbeitsablauf mitbekommt.
    Ja, was ich noch vergessen habe, nach ca. 1 Stunden aktenvernichten habe ich J gefragt, was er lieber weitermachen würde, Handy aufsetzen oder Aktenvernichten. Ich war nicht geduldig genug, hab nochmal gefragt und er hat dann von sich aus "weiter-machen" gesagt. Auch das hat mich gefreut, weil ich das gefühl hatte, dass er mir soweit vertraut, dass er auch mit mir spricht.

    Ein weiteres Problem ist beim Smartphone-Aufsetzen aufgetreten. Da eines der Smartphones nur eine EDGE Verbindung aufbauen konnte, hat einer der Arbeitsschritte beim Aufsetzen ca. 10x so lange gedauert wie normal, die Aktualisierung einer Samsung Software. Normalerweise 20 - 30 Sekunden. Diesmal über eine Stunde. J hat mit einer Eselsgeduld darauf gewartet bis die Aktualisierung fertig war und dann ganz normal weitergemacht. Ich habe ihm auch bei einem Smartphone auf die Finger geschaut. Er hat sich schon auch vertippt beim Eingeben des APN, hat die Eingabe dann aber ohne Zögern selbstständig korrigiert.

    Die insgesamte Ausbeute von einer Woche war also:
    20 - 30 Aktenordner entsorgt.
    Ca. 2000 - 3000 Blatt Papier eingescant.
    40 Smartphones mit Grundeinstellung aufgesetzt und im Zuge dessen eine eigene App samt Einstellungen installiert.

    kein schlechtes Pensum. J hat zwischen den Arbeitsschritten immer wieder Pausen gemacht, wo er einfach nur dagesessen ist, sich gestreckt hat, oder etwas getrunken hat.

    Seele1986
    Wie geht es weiter? Kommende Woche telefoniere ich mit dem Verein, der die Stützlehrerin stellt bzw. J an uns vermittelt hat. Ich werde ausführliches Feedback geben und seitens des Mitarbeiters wurde mir schon angekündigt, dass J gerne in eine Lehre wechseln möchte. Diese Lehre ist auch mit Stützen verbunden, entspricht also den Bedürfnissen von J.
    Ich bin unschlüssig, ob ich die Zeit aufbringen kann, die es benötigt um J ausreichend zu versorgen und zu fördern. Ich habe mir schon die ganze Woche überlegt, ob es bei uns in der Firma etwas gibt, das J machen könnte und ich bin sogar auf eine wichtige und dauerhaft notwendige Arbeit gestoßen: Die Archivierung. Wöchentlich fallen bei uns in der Kundenbetreuung ein oder zwei Ordner (ca. 15 cm dick) mit abzulegendem pflegerisch relevanten Daten an. Dieser Ordner wird derzeit einfach in einem Büro gelagert. Diese Daten müssen 30 Jahre aufbewahrt werden, das ist eben gesetzlich so. Um nicht allzuhohe Lagerkosten zu haben, haben wir vor ca. 6 Jahren damit begonnen alle alten Daten einzuscanen. Dafür gibt es ein Programm, einen Scanner und eine eigene Arbeitsstion in einem eigenen Büro. Im Endeffekt ist die Tätigkeit immer gleich, man scant ein, beschlagwortet das Dokument, legt es bei einem im System befindlichen Kunden ab und dann kommt das Originaldokument zur Aktenvernichtung. Eine sehr monotone und gleichförmige Tätigkeit, irgendwie ideal für einen wie J. Und die Arbeit geht auch nie aus.
    Meine Bedenken/Sorgen dabei: Ich tu mir extrem schwer jemandem eine Arbeit zu geben, die ich selbst als extrem öde und eintönig empfinde. Einfach weil ich weiß wie das ist und wie unwohl man sich dabei fühlt. Diese Sorge ist bei J möglicherweise unbegründet.
    Sorge Nr. 2: In einer Lehre, also einer Tätigkeit, wo man was lernen soll, wo man sich als Person beruflich und menschlich fortbilden/ausbilden soll, da kann ich doch nicht jemanden einfach auf einen Platz setzen und dort eintönig/monoton eine Tätigkeit verrichten lassen. Für eine umfangreichere Betreuung fehlt mir aber die Zeit....vielleicht gibt's eine Lösung dafür
    Sorge Nr. 3: Sollte J die Tätigkeit des Archivierens nicht richtig machen, dann würde der Fehler erst sehr spät bemerkt werden. Die Tätigkeit ist also von der Verlässlichkeit sehr wichtig, da es eben Fälle gibt in denen ehemalige Kunden oder deren Verwandte (oder ein Richter im Rahmen eines Erbrechtsstreits) auch Jahre später noch die Originaldokumente von uns anfordern könnten. Wir müssten die Dokumente liefern, zumindest elektronisch. Was tun, wenn wir dann draufkommen, dass J etwas falsch verstanden hat und die Originaldokumente vernichtet wurden?


    Seele1986
    Js Vater hat erzählt, dass er mit J einen Weg vorhatte und J die Adresse gesagt hat. Als sie dann in der U-Bahn waren, wollte Js Vater aussteigen, J hat ihn aber zurückgehalten, weil er einen schnelleren/alternativen Weg wußte. Er hatte den Weg wohl komplett im Kopf durchgeplant.


    Wenn ihr noch Fragen habt...immer gerne.

  • tricky:

    finde das toll, wie du das mit den Jungen machst!

    Deine Bedenken verstehe ich gut. Es ist sicher zeitaufwändig und fordert viel Geduld.

    Die "öde Arbeit" wird ihn wahrscheinlich weniger stören, aber wie du schon sagtest, ist das natürlich keine "Ausbildung" in dem Sinne.

    Es wird auch nicht gewollt sein, denke ich mir mal: die Hilfsprojekte und Stützprogramme möchten solche Leute ja eigentlich zunehmend dahin bekommen, "alltagstauglicher" zu werden und sich in der Welt besser zurecht zu finden (eben auch auf dem Arbeitswege, weil Arbeit etwas ist, das sehr gut integriert). Die möchten ja sicher nicht, dass er 3 Jahre plusminus das gleiche tut.

    Da verstehe ich deine Bedenken vollkommen. Kannst du das leisten? Wird sicher schwierig.

    Ich denke, das muss wirklich intensiv mit dem Stützprogramm da besprochen werden; was "kann" der Junge eigentlich leisten und wo sind wirklich seine Grenzen erreicht (das ist ja nicht immer so ganz klar).

    Gibt es die Möglichkeit, dass mit den Profis mal zu besprechen? Muss ja geplant und betreut werden sowas. Oder vielleicht geht es in Kooperation mit einer anderen Firma, oder so. Dass man sich die Arbeit teilt vielleicht.

    Was das Archivieren angeht: wenn ihm das einmal richtig gezeigt wurde, wird der Junge wahrscheinlich niemals einen Fehler dabei machen. Archivieren ist wahrscheinlich eine der besten Tätigkeiten für autistische Menschen.

    Ich wünsche dir noch guten Rat und Geleit und viel Erfolg!